Kino

„Über die Unendlichkeit“: Trivial? Erhaben? Das ist hier alles eins

Ein Priester (Martin Serner), der nicht mehr an Gott glaubt, imaginiert sich in seinen Alpträumen als Jesus-ähnliches Opfer eines gewalttätigen Mobs, der ihn durch die Straßen peitscht.
Ein Priester (Martin Serner), der nicht mehr an Gott glaubt, imaginiert sich in seinen Alpträumen als Jesus-ähnliches Opfer eines gewalttätigen Mobs, der ihn durch die Straßen peitscht.Polyfilm
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Der schwedische Autorenfilmer Roy Andersson setzt in „Über die Unendlichkeit“ Alltagsmomente mit der gleichen Unaufgeregtheit in Szene wie historische Zäsuren.

Ein Liebespaar schwebt eng umschlungen über dem zerbombten Köln von 1945. Wer sind die zwei? Woher kommen sie? Wohin lassen sie sich treiben, und wieso gibt ausgerechnet die Domstadt am Rhein und keine andere im Zweiten Weltkrieg zerstörte Metropole die Kulisse für das endzeitliche Leinwandgemälde ab, das nach seinem Auftauchen sogleich wieder verschwindet? Das poetische Filmbild, das auch das Plakat von „Über die Unendlichkeit“ ziert, verschafft darüber genauso wenig Aufschluss wie die umliegenden Miniaturen, die der Schwede Roy Andersson in seinem bekannten minimalistischen Stil als Tableaux vivants in entsättigten Farben und langen Einzeleinstellungen aus der Guckkastenbühnen-Perspektive inszeniert.

Philosophische Grundfragen

Trotzdem scheint die imposante Sequenz keineswegs aus dem Nichts zu kommen, sondern das Zwischenresultat eines Bewusstseinsstroms zu sein, der zuvor banale, groteske und absurde, und nun eben ein pathetisches Szenarium voll romantischer Anmut und apokalyptischer Düsternis an die Oberfläche gespült hat.

In einer anderen Sequenz sitzt ein altes Ehepaar auf einer Parkbank und betrachtet einen Vogelschwarm. Es hebt nicht ab und die Großstadt unter ihnen ist unzerstört, dennoch vermittelt die kontemplative Ruhe ein gleichwertiges Gefühl von Schwerelosigkeit wie der magische Anblick des Liebespaars im Gleitflug. Wie schon in seiner „Trilogie über das menschliche Wesen“, die sich aus „Songs from the Second Floor“ (2000), „Das jüngste Gewitter“ (2007) und „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ (2014) zusammensetzt, verzichtet Andersson auch in seinem jüngsten Streich auf jede Hierarchie zwischen trivialen und erhabenen Situationen. Es gibt Episoden, die nicht mehr zeigen als einen Vater, der seiner Tochter die Schuhe bindet, oder einen Mann, der in einem Bus zu weinen beginnt. Und andere wiederum, die von großen historischen Zäsuren handeln, die Andersson aber mit derselben Unaufgeregtheit in Szene setzt. Alles ist gleichwertiger Ausdruck des menschlichen Daseins.

Zusammengehalten wird das Episodengeflecht dabei von philosophischen und theologischen Grundfragen, deren Unlösbarkeit oft mit der Alltagsrealität der Charaktere kollidiert. Ein Priester, der neuerdings nicht mehr an Gott glaubt, imaginiert sich in seinen Alpträumen als Jesus-ähnliches Opfer eines gewalttätigen Mobs, der ihn durch die Straßen peitscht. Nach einem Nervenzusammenbruch in der Sakristei, ausgelöst durch exzessiven Messweinkonsum, sucht er Rat bei seinem schnoddrigen Psychoanalytiker, der ihn aber nicht anhört, weil der Geistliche kurz vor Feierabend bei ihm hereinschneit. Einem frisch verliebten Pärchen steht die Welt noch offen. Als dem Burschen ein Buch über theoretische Physik in die Hände fällt, gerät es jedoch ins Grübeln: Wenn ihre gegenseitige Anziehung das Produkt einer unauslöschlichen kosmischen Energie ist, die nach ihrem Tod auf andere Lebewesen überspringt, kann ihr Zusammensein dann noch auf einem freien Entschluss basieren?

So sehr man Andersson dafür lieben muss, seit 20 Jahren ein existenzialistisches Kino zu kultivieren, das seine eigentümliche Stimmung aus einer spürbar tiefen Auseinandersetzung mit zahllosen Kunstrichtungen (Neue Sachlichkeit), Malern (Hopper, Chagall), Schriftstellern (Beckett) und Philosophen (Heidegger, Sartre, Camus) gewinnt, kommt man um eine kritische Feststellung aber nicht umhin: Neu ist das alles nicht. Die meisten Anspielungen beziehen sich auf Geistesströmungen, die mehr als 50 Jahre auf dem Buckel haben, und die entrückte Ästhetik kennt man schon aus den drei Vorgängerfilmen von Andersson. Ob man ihm das als Treue oder Sturheit auslegen will, bleibt jedem selbst überlassen. Unterhalten fühlt man sich von „Über die Unendlichkeit“ trotzdem. Obwohl es seinem Kino durchaus guttäte, sich auch einmal von Theorien, Stilrichtungen und kulturellen Phänomenen jüngeren Datums inspiriert zu zeigen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2020)

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