Hinter dem Horizont am Meer das Weite suchen

Holland. In komplizierten Zeiten wie dem Sommer 2020 genießen Reisende am Meer bei Den Haag die Leichtigkeit des Seins, indem sie einfach den Mainstream meiden.

Fünfundvierzig Meter über dem Meer, mitten auf dem 381 Meter langen Pier von Scheveningen, dreht sich der Urlauber um und schaut zurück. Sieht auf den elf Kilometer langen Strand Den Haags und Menschen, die sich um die Seebrücke drängeln – im Wasser, im Sand vor dem Boulevard. Warum schwärmen sie nicht aus, insbesondere im Abstandssommer 2020? Wo doch der Meer-Raum Den Haag so viel mehr Raum zum Sich-Vergnügen, Sich-Entspannen bietet. Naturreservate, so weit, dass dort Gedanken an das Abstandhalten die Leichtigkeit des Seins nicht beschweren.

Der Blick des Urlaubers auf dem Pier schweift nach Süden. Überfliegt zehn, fünfzehn Gehminuten in einer Sekunde, gleitet weiter über immer leerer werdenden Strand. Er weiß, jetzt, bei Ebbe, dehnt sich der „Stille Strand“ drei Kilometer breit. Bewohner der Mietstrandhäuser verlieren sich darauf. Der Schaulustige auf der Seebrücke erinnert sich an die hinter den Strandhäusern liegenden Dünen: den West Dune Park, durchkreuzt von Wegen, auf denen schottische Hochlandrinder dahintrotten und respektvolle Wanderer tolerieren. Erinnert sich an Fuchsspuren im Sand. Und – ja, an den „Sand-Motor“, diese zum Schutz der Küste künstlich aufgeschüttete Sandbank, einen Quadratkilometer groß. Wind, Wellen und Meeresströmung verändern sie langsam und stetig. „Mit der Natur bauen“ nennen die Niederländer das. Pflanzen, seltene Vögel und Seehunde bevölkern den neuen Raum – Menschen fahren hier Sandschlitten.

Der Urlauber auf dem Pier schaut nach Norden. Und auch hier: Je weiter sein Blick den Strand entlangwandert, je weniger Menschen tummeln sich darauf. Verschwenderisch breit dehnt sich der Strand bis zu sandigen Hügeln hinan: dem National Park Hollandse Duinen. Ganz oben steht das Carlton Beach Hotel. Gleich dahinter beginnen die Meijendel-Dünen. Sie schützen das Hinterland vor Sturmfluten. Denn unter den Hügeln fließt Rheinwasser auf dem Weg zum 30 Kilometer entfernten Rotterdam, wo der Hauptstrom mündet. Vom Sand gefiltert versorgt es Den Haag mit bestem Trinkwasser. Heineken braut mit dem Dünenwasser Bier. Und weil die Dünenlandschaft so pfleglich geschützt ist, wachsen Heckenrosen, Brombeeren, Bäume und Gräser kraftvoll, wo ihre Samen hinfallen. Umgestürzte Bäume bleiben liegen und werfen ihre Rinde ab, bis sie als glatte, helle Skulpturen in der Landschaft leuchten. Wanderer, die am Morgen oder frühen Abend den Sand- oder gepflasterten Wegen folgen, begegnen selten einem anderen Menschen, können aber wilde Pferden grasen sehen, Rehe ihre Köpfe heben, Vögel singen, das Meer rauschen hören, Salzluft, Beeren und Kräuter riechen. Radfahrern brauchen sie nie auszuweichen – die rollen auf eigenen Wegen. Nahe beim Wasserturm wartet das kleine Restaurant Onder de Watertoren mit Schollenfilets, Chips und Getränken.

Verschwenderische Weite

Je weiter man geht, desto einsamer die lichten Küstenwälder. Blätter wispern, Licht und Schatten wechseln. Selbst die Mittagshitze macht hier niemanden schlapp. Überall kühle Grasflecken zum Innehalten.

Wer ein paar Tage nur Meer, Strand, und Dünen erlebt hat, den kann eine wilde Lust auf Tapetenwechsel überfallen. Und im Meer-Raum Den Haag findet sich viel mehr als nur Meer und Sand. Zwölf Fahrradminuten von Schevenings Promenade durch die Stadt geradelt, schon ist einer der schönsten Parks der Niederlande erreicht: Clingendael. Im 16. Jahrhundert nach französischem Vorbild angelegt, im 19. in einen englischen Landschaftspark umgestaltet, präsentiert er sich heute altholländisch und in verschwenderischer Weite. In den Ferien verlieren sich Besucher im Wald. Vor Wildblumen und einem Weiher sitzt eine Dame mit Hut, Skizzenblock oder Staffelei vor sich. Schilf raschelt, Gräser beugen sich in der Brise, Enten landen im Wasser, in dem sich Himmel und Uferpflanzen spiegeln. Rallen stehen auf schwimmenden Nestern, Schmetterlinge flattern. Hinter dem Landhaus der Clingendaels liegt ein Spielplatz, ein gutes Stück weiter, im Schatten alter Bäume, ein Café. Von der Terrasse aus verliert sich der Blick in weiträumiger Parklandschaft; vereinzelt sieht man Besucher an Baumstämme gelehnt sitzen und lesen, schauen, träumen. Vor hundert Jahren wurde ein japanischer Garten angelegt. Pflanzen, ein Wasserfall, kleine Brücken, ein Pavillon, Skulpturen. Wer den Clingendael-Park am späten Nachmittag, am frühen Abend verlässt und ans Meer zurückkehrt, findet den Strand an seinen nördlichen und südlichen Enden weit und leer. Wellen rauschen. Der Horizont weckt Sehnsüchte. Alles ist möglich, sich frei und entspannt zu fühlen. Viel braucht es nicht dazu. Nur sich ein bisschen früher am Tag dorthin aufmachen, oder erst, wenn er beginnt sich zu neigen. Nur nicht zum Hotspot Pier gehen, sondern ein paar Hundert Meter weitergehen. Nur ein bisschen neugierig sein auf das, was hinter dem Horizont liegt. Nur vor der Anreise unbedingt https://denhaag.com googeln. Sich schlaumachen über Park & Ride oder Park & Bike, um nicht in das Drängeln zu geraten und damit das 1,5-Meter-Abstandhalten leichtes Spiel bleibt. Der Meer-Raum Den Haag überrascht. Mit Vielfalt. Mit Wildheit. Mit Stille. Mit Schönheit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2020)

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