Leben

Als die bosnischen Flüchtlinge kamen

25 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges erinnern sich ehemals Geflüchtete an die Zeit des Konflikts und an ihre Ankunft in Österreich zurück: Von getrennten Klassen, verlorenen Häusern – und der Entfremdung von der eigenen Stadt.

Wie der Schlüssel die Zeit überdauert hat, ist Selma Nišić selbst ein Rätsel. Wahrscheinlich war es Glück. Nišić weiß noch von diesem Tag, an dem sie mit ihrer Mutter den Haustürschlüssel nachmachen ließ – sie sollte ein rosarotes Modell aussuchen, mit einem Herzanhänger, auf dem „YU“ eingraviert war, „YU“ für Jugoslawien. Der Schlüssel war für das junge Mädchen damals im bosnischen Bijeljina der frühen 1990er ein Symbol der Eigenständigkeit, der freien Bewegung. Wenn sie heute dieses Relikt in der Hand hält, dann überkommt sie die Erinnerung wie eine optische Täuschung: „Das Haus gehört uns nicht mehr, Jugoslawien gibt es nicht mehr.“

Selma Nišić war 14 Jahre alt, als sie Bijeljina verlassen musste. Drüben, auf der anderen Seite der Grenze, wartete die Freundin der Mutter, bereit, die vermeintlich serbische Identität der Familie zu bestätigen. Mit dem Vater gelang den beiden Töchtern die Flucht nach Österreich im Autobus, die Mutter fuhr vorerst nach Bijeljina zurück. „Sie ist geblieben, um auf unser Haus zu schauen. Man hat ja geglaubt, in einem Monat ist das alles wieder vorbei.“ Es ist November 1992, als sich Nišić in einer Sporthalle in der Wiener Lieblgasse wiederfindet, ein provisorisches Flüchtlingslager auf dem Spielfeld, leere Tribünen rundherum.

Gelegentliche Fahrten mit dem Vater zum Südbahnhof, um einen bekannten Busfahrer zu fragen, ob es Neuigkeiten von der Mutter gebe.
„Hektisch, sehr fremd“, sei diese Zeit gewesen. Als die Mutter selbst in Wien ankam, wenige Wochen später, zeichnete sich schon ab: In einem Monat ist gar nichts vorbei.

25 Jahre nach Ende des Bosnienkriegs kommt ein altbekanntes Paradoxon wieder auf: Es ist lang her, gleichzeitig fühlt es sich an wie gestern. Die Schlagwörter dieser Zeit hallen heute noch nach: Nachbar in Not, die Bosnien-de-facto-Unterstützungsaktion, die Geflüchteten vorübergehenden Aufenthalt zusicherte, das „Österreich zuerst“-Volksbegehren. Von den rund 100.000 Schutzsuchenden aus Ex-Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre stammten zwischen 85.000 und 90.000 aus Bosnien und Herzegowina.

Ihre Erinnerungen an die Flucht sowie an die Ankunft in Österreich stehen im Mittelpunkt einer neuen Ausstellung in der Wiener Hauptbücherei, die die Historikerin Vida Bakondy und Architektin Amila ?irbegović kuratiert haben. Ihnen gehe es um die Sichtbarmachung, sagt ?irbegović. Um die Repräsentanz von Migranten in Museen. „Unsere Motivation ist, dass diese Geschichten hörbar und sichtbar werden.“ Als im Zuge der Fluchtbewegung 2015 gelegentlich eine Analogie zu den 90er-Jahren hergestellt wurde, war davon die Rede, wie reibungslos seinerzeit alles funktionierte. Freilich, die Hilfswelle war enorm und lang anhaltend. „Aber auch damals hieß es in Zeitungen: Das Boot ist voll“, sagt ?irbegović. „Wenn die Geschichte nicht mehr sichtbar ist, kann man sie leicht verdrehen.“

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