Netzneutralität: Weg frei für ein Internet zweiter Klasse

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Google und Verizon einigen sich auf Vorrangstraßen im mobilen Netz. Bestimmte Daten sollen schneller übertragen werden als andere. Die Betreiber klagen seit Längerem über immer mehr Datenverkehr.

Wien. Was würden Sie denken, wenn sich die Internetseite Ihrer Lieblingszeitung plötzlich nur noch im Schneckentempo öffnen ließe, weil ihr Internetanbieter der Konkurrenz vertraglich die Vorfahrt im Netz garantiert? Unvorstellbar? Seit Kurzem ist diese Schreckensvision für Konsumenten näher als gedacht.

Bisher wird jedes Byte im Internet gleich schnell übertragen. Angesichts steigender Datenvolumen tüfteln Telekomfirmen jedoch seit Jahren an Tarifmodellen, in denen manche Daten gegen Bezahlung schneller transportiert werden sollen als andere. Mithilfe derartiger „Vorrangstraßen“ im Internet wollen sie am Boom von Google und Co. mitnaschen.

„Die Suchmaschinen nutzen unser Netz, ohne dafür zu bezahlen“, heizte Cesar Alierte, Chef der spanischen Telefonica, die Debatte im Februar an. „Das ist schön für sie, aber schlecht für uns.“

Lange Jahre waren die Fronten zwischen den beiden Branchen verhärtet. Nun haben zwei Konzerne, die eigentlich Gegenspieler sein sollten, eine eigentümliche Allianz geschlossen und eine Grundsatzerklärung zum Thema formuliert.

Keine Regeln für mobiles Internet

Vordergründig bekennen sich der Internetgigant Google und der Telekomkonzern Verizon darin zum Grundsatz der „Netzneutralität“, wonach alle Daten gleich schnell transportiert werden sollen. Eine erkaufte Überholspur soll es nicht geben, sagten Verizon-Chef Ivan Seidenberg und Google-Boss Eric Schmidt unisono. Zur Not sollte das auch mit Geldstrafen durchgesetzt werden.

Klammheimlich lassen sich die beiden aber etliche Hintertürchen offen: So sollen Breitbandanbieter „Zusatzdienste“, etwa in den Sektoren „Unterhaltung, Telemedizin oder E-Learning“ anbieten dürfen, ohne auf Netzneutralität achten zu müssen. Nur „bedeutsame Breitbanddienste“ sollten auch über das normale Netz verfügbar bleiben.

Der lukrative Mobilfunkbereich wurde gänzlich ausgenommen. Hier wollen sich die Konzerne nur der Transparenz verpflichten. Andere Anforderungen für ein offenes Netz sollen dort nicht gelten. In den Vereinigten Staaten waren die Netze aufgrund des Smartphone-Booms zuletzt immer wieder überlastet. Am Markt für mobiles Internet verfolgen Google und Verizon mit dem Droid-Smartphone auch gemeinsame Geschäftsinteressen.

Kritiker sehen in der Einigung der beiden Konzerne den ersten Schritt zur Einführung eines Zwei-Klassen-Internets – und damit das Ende der Internetwirtschaft, wie wir sie heute kennen. Seit den frühen Neunzigern hat die Chancengleichheit von kleinen und großen Unternehmen im Internet eine regelrechte Gründerwelle ausgelöst. Datenintensive Dienste wie YouTube hätten wohl nicht einen so rasanten Aufstieg hingelegt, hätten sie für schnelle Datenverbindungen zahlen müssen.

Datenmenge explodiert

Derzeit fehlen in den meisten Ländern noch Gesetze, die eine Bevorzugung bestimmter Datenpakete im Internet regeln. Während die Debatte über Netzneutralität in den USA seit Jahren läuft, hinkt Europa hinterher. Aber auch diesseits des Atlantiks können sich die Politiker dem Thema nicht entziehen. Zu offenkundig ist der Wandel im Netz, der die Argumentation der Telekomfirmen unterstützt.

Allein in den Mobilfunknetzen verdoppelt sich das Datenvolumen – nicht zuletzt dank des Erfolgs von Apples iPhone – derzeit alle acht Monate. Nicht mehr lange, und die vorhandenen Netze stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Im gesamten Internet steigt das Datenvolumen bis 2014 auf 767Exabyte im Jahr, schätzt der Netzwerkausrüster Cisco. Das wären viermal mehr Daten als heute. Auf DVDs gespeichert und gestapelt würden sie die halbe Strecke bis zum Mond schaffen. Ohne dem kostspieligen Ausbau der Glasfasernetze sind Engpässe vorprogrammiert.

Das ist zwar egal, solange es nur darum geht, ob ein E-Mail eine Minute früher oder später ankommt. Die Internettelefonie oder Onlinespiele leben aber davon, dass alle Informationen ohne Zeitverzögerung versandt werden.

Rechtlich hat die Einigung von Google und Verizon freilich keine Auswirkungen. Geht es nach den Konzernen, soll sie aber als Basis eines Gesetzgebungsverfahrens im Kongress dienen. Unterdessen arbeitet die Regulierungsbehörde FCC an einem eigenen Vorschlag.

Auch die EU-Kommission will bis Ende 2010 entscheiden, ob sie einen Gesetzesvorschlag zum Thema einbringen will. Noch vertraue man auf den freien Markt. Als eines der ersten Länder hat sich Chile heuer nach vorn gewagt: Dort ist die Gleichbehandlung von Daten im Netz seit Juli Gesetz.

auf einen Blick

Telekomfirmen kämpfen seit Jahren darum, bestimmte Daten im Internet gegen Bezahlung schneller zu übertragen als andere. Gesetze, die derartige Verstöße gegen das Prinzip der „Netzneutralität“ regeln könnten, fehlen in den meisten Staaten noch. Google und der Telekomkonzern Verizon haben nun eine Einigung vorgelegt, die ein derartiges Zwei-Klassen-Internet zumindest im Mobilfunkbereich vorsieht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2010)

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