Kurze Erleichterung in der Hauptstadt: 30 Sekunden ging über dem Westen Moskaus ein kurzer, prasselnder Regen nieder. Das war es dann aber auch. Der Schaden aus den Waldbränden beläuft sich auf 11,5 Mrd. Euro.
Moskau. Die Szene hatte etwas Alttestamentarisches: Menschen stürmten auf die Straße, schrien vor Freude und reckten die Arme gen Himmel. 30 Sekunden ging über dem Westen Moskaus ein kurzer, aber prasselnder Regen nieder, gefolgt von einer starken Böe. Das war es dann aber auch, was der Himmel an Erleichterung schickte. Auch gestern, Dienstag, stellte die russische Hauptstadt mit 33 Grad wieder einen neuen Hitzerekord auf. Alle Hoffnungen setzt Moskau jetzt ausnahmsweise auf den Westen: Ab Mitte der Woche sollen Westwinde den Smog über der Stadt vertreiben.
„Atomanlagen nicht bedroht“
Nach offiziellen Angaben wurden trotz Erleichterung auch gestern die Grenzwerte für Kohlenmonoxid und Feinstaub um ein Vielfaches überschritten. Atmen ist dennoch etwas leichter geworden, die Sicht reicht etwas weiter. Die Wald- und Torfbrände im Osten Moskaus wüten unterdessen weiter. Noch ist nicht abzusehen, ob und wann es der Feuerwehr gelingt, die Brände zu löschen.
Auch in der Umgebung der Atomanlagen in Sneschinsk, Majak und Sarow brennen die Wälder noch. Das Zivilschutzministerium beteuert jedoch, die Feuer seien unter Kontrolle und die Nuklearanlagen nicht bedroht. Die Verhängung des Ausnahmezustands rund um die Wiederaufbereitungsanlage Majak bei Tscheljabinsk im Ural am Montag hatte Misstrauen geschürt. Die Atomanlage beherbergt Russlands größte nukleare Mülldeponie. Niemand weiß genau, wie der Abfall dort entsorgt wird.
Majak ist überdies der Ort, an dem sich 1957 der bisher schwerste atomare Unfall der Geschichte ereignete. Damals explodierte eine Abfalldeponie mit 80 Tonnen Müll. Dabei wurde mehr Radioaktivität freigesetzt als beim GAU von Tschernobyl knapp 30 Jahre später. Die Umgebung ist nach wie vor hochgradig verseucht. Feuer würden das radioaktive Material in die Atmosphäre befördern. Da die russischen Behörden Unfälle und Katastrophen gewöhnlich widerwillig und erst nach langem Zögern eingestehen, wächst bei früher Prophylaxe indes der Argwohn. Haben sie es wirklich unter Kontrolle?
Auch ohne nukleare Katastrophe steht Russland bereits vor einem GAU. Russische Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass der Schaden aus den Waldbränden sich auf ein Prozent des BIPs 2010 beläuft und umgerechnet 11,5 Milliarden Euro ausmacht. In dieser Aufrechnung sind aber laut der Wirtschaftszeitung „Kommersant“ nur die Kosten und Verluste eingerechnet, die die Brände direkt verursachten. Die langfristigen Folgekosten dürften noch höher ausfallen, meinen die Experten.
Bürger sich selbst überlassen
Vor dem Hintergrund der gesundheitlichen und ökologischen Ausnahmesituation mutet es befremdlich an, wie gelassen und teilnahmslos Politiker und Bürokraten in Moskau auf die Ereignisse reagieren. Die Bürger sind sich selbst überlassen. Wer halbwegs gesund ist, begegnet dem Notstand mit Schicksalsergebenheit und Sarkasmus.
Unterdessen droht Russland der Einbruch anderer Naturgewalten. Nach Abflauen der Hitzewelle, sagten Meteorologen, müsse sich das Land auf lange und heftige Regengüsse, Stürme und Tornados einstellen. Die politische Elite erhält die Chance, einiges wiedergutzumachen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2010)