Fabian Kalleitner: „Der Anteil der Unentschlossenen ist extrem hoch“

Fabian Kalleitner forscht an der Universität Wien.
Fabian Kalleitner forscht an der Universität Wien.(c) Beigestellt
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Fabian Kalleitner untersucht an der Uni Wien die Haltung der Österreicher zu europäischen Corona-Hilfsmaßnahmen. Die Daten weisen laut ihm darauf hin, dass sich viele – wohl aufgrund der Komplexität der Materie – schwertun, eine eindeutige Meinung zu haben.

Die Presse: Ihre Studie ist Teil des seit dem Beginn der Pandemie laufenden „Austria Corona Panel Project“. Welchen Aspekt wollten Sie untersuchen?

Fabian Kalleitner: Unsere Absicht war es, noch vor dem Beginn der Verhandlungen über ein Corona-Hilfsprogramm der EU vorzufühlen, wie die Österreicher zu europäischen Maßnahmen stehen – um beobachten zu können, ob sich diese Haltung im Laufe der Gespräche verändern wird.


Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Wir stellen fest, dass sich wenig getan hat. Am ehesten wird die Position der österreichischen Regierung marginal stärker akzeptiert als zuvor. Diese Veränderung lässt sich allerdings nur schwer messen, denn als wir mit unserer Arbeit begonnen haben, kannten wir noch nicht alle Hilfsoptionen, über die auf EU-Ebene schlussendlich debattiert wurde.


Wie sind Sie mit diesem Handicap umgegangen?

Wir haben versucht, Prinzipien zu messen – also beispielsweise die Präferenzen für höhere EU-Mitgliedsbeiträge, gemeinsame Schulden, freiwillige Sachspenden und so weiter. Auffallend ist, wie unsicher sich die Befragten bei den unterschiedlichen Optionen waren.


Hat diese Unsicherheit unter Umständen damit zu tun, dass man hierzulande zu wenig weiß, um sich ein klares Bild von der Problematik machen zu können?

Ja. Wir merken das an zwei Punkten: Zum einen wollten rund zehn Prozent der Befragten gar keine Antwort abgeben. Das ist doppelt so viel wie sonst bei Einstellungsfragen. Und zum anderen waren wir mit einer hohen Anzahl von Unentschlossenen konfrontiert – also Personen, die uns gesagt haben, sie seien nicht unbedingt dafür, aber auch nicht unbedingt dagegen.


Wer sich also nicht sicher ist, antwortet mit „teils-teils“.

Es gibt zweifellos viele Menschen, die sich so oder so in der Mitte verorten würden. Aber der von uns erhobene Anteil war mit fast 30 Prozent extrem hoch.


Spielt die Bildung eine Rolle?

Personen mit niedrigem Bildungsniveau sowie Jüngere tendieren dazu, keine Antwort zu geben – und wenn sie eine geben, dann eher eine „mittlere“ Antwort.


Die Debatte über europäische Hilfen dauerte mehrere Monate, der endgültige Beschluss über den mit 750 Mrd. Euro dotierten Hilfsfonds wurde Mitte Juli gefällt. Hat sich die Haltung der Österreicher im Laufe dieser Zeit konkretisiert?

Was wir festgestellt haben, war ein leichter Anstieg der Zustimmung zu einem EU-Fonds zur Kreditvergabe, der ein Teil des vereinbarten Maßnahmenpakets ist – und der von den „Sparsamen Vier“ (Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich, Anm.) favorisiert wurde. Diese Veränderung ist allerdings minimal, alles andere ist de facto konstant geblieben. Möglicherweise haben wir es mit einem sogenannten Policy Feedback Effect zu tun – also der Übernahme von Partei- bzw. Regierungspositionen bei unsicheren Themen.


Man braucht also eine Orientierungshilfe.

In der politikwissenschaftlichen Literatur gibt es einen starken Strang, dem zufolge solche Effekte in der EU-Politik generell eine große Rolle spielen . . .


. . . weil die EU-Politik komplex und nicht direkt erlebbar ist . . .

. . . und weil sie in den Medien zu wenig dargestellt wird.


Gibt es punkto finanzielle Solidarität eine Kluft zwischen den Einstellungen der Wissenselite und dem Rest der Bevölkerung?

Zunächst einmal ist es alles andere als einfach, zwischen Eliten und Nichteliten zu unterscheiden. Der von uns festgestellte Bildungseffekt ist jedenfalls nicht sehr stark.


Welche Faktoren haben einen Einfluss?

Es gibt einige entscheidende Einstellungen: Beispielsweise, ob der Befragte, ganz grundsätzlich, einen Vorteil in der EU sieht oder nicht. Oder inwieweit er sich als Europäer fühlt. Es stimmt schon, dass die höher Gebildeten teilweise proeuropäischer sind als der Rest der Bevölkerung. Doch selbst bei ihnen merken wir eine große Unsicherheit.


Die Materie ist also derart komplex, dass selbst eine dezidiert proeuropäische Haltung keine Orientierung gibt?

Ja. Es gibt offenbar auch viel Unklarheit darüber, wie eine proeuropäische Lösung überhaupt aussehen könnte.

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