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Die Leiden des jungen Islamisten

Le Jeune Ahmed
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Neu im Kino: „Le jeune Ahmed“ von den Dardenne-Brüdern zeigt die Radikalisierung eines muslimischen Jugendlichen in Belgien. Der Film besticht durch die Körpersprache der Darsteller.

Spätestens ab der Mitte eines jeden bisherigen Films von Jean-Pierre und Luc Dardenne kam er: der Moment, der die Hauptfiguren aus ihrem sozialen Tiefschlaf hochschrecken ließ und sie für die restliche Laufzeit zur Wiedergutmachung ihrer ethischen Verfehlung trieb. Auslöser war meist der Anblick eines sterbenden, bedürftigen oder bedrohten Mitmenschen, dessen Misere oder Tod sie durch mangelnden Widerstandsgeist („Das Versprechen“, 1996), vorübergehende Unachtsamkeit („Das unbekannte Mädchen“, 2016) oder Verstrickung in kriminelle Machenschaften („Lornas Schweigen“, 2007) begünstigt hatten. Das neue Werk des belgischen Brüderpaars, „Le jeune Ahmed“, bricht mit diesem Erzählmuster, obwohl alle sonstigen Merkmale ihres Kinos unverändert geblieben sind.

Wie immer stehen ethische Grundsatzfragen im Zentrum, werden aber nicht abstrakt behandelt, sondern brechen direkt in den Alltag der Figuren ein, die abermals eine soziale Brennpunktgegend in Belgien bewohnen. Auch dem körpernahen Realismus, erzeugt durch Handkameraeinsatz und einen Mix aus Profi- und Laiendarstellern, sind die Dardenne-Brüder treu geblieben. Nur der Protagonist ist anders als sonst. Er scheint resistent gegen jeden Sinneswandel.

Rituale der Pubertät

Der junge Ahmed ist ein schüchterner Bursche auf der Schwelle zur Pubertät, das zeigt schon sein introvertiertes Verhalten. Man sieht ihn oft im Badezimmer, wie er sich hektisch den Mund auswäscht, seine Hände schrubbt oder kleinste Barthaare mit dem Einwegrasierer entfernt, und fühlt sich an vergleichbare Rituale aus der Jugend erinnert, wenn der eigene Körper zu riechen, mutieren und für andere sichtbarer zu werden anfing. Der Unterschied ist nur, dass sich die adoleszente Scham des Einwanderersohns mit seiner islamisch-fundamentalistischen Weltanschauung vermischt hat. Die Wörter „rein“ und „unrein“ bezeichnen demnach nicht nur den äußeren Zustand von Personen, sie sind auch Werturteile über ihre Frömmigkeit. Schulkameraden, Lehrer und Familienmitglieder hat Ahmed auf diese Weise bereits aussortiert. Seine Mutter straft er mit Verachtung, weil sie regelmäßig trinkt und keinen Hijab trägt. Ein Imam aus der Nachbarschaft, der für den vaterlosen Jungen die Rolle des männlichen Vorbilds übernommen hat, steht hingegen hoch im Kurs bei ihm.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Vermengung aus rebellischen Impulsen, religiösem Fanatismus, dysfunktionalem Familienhintergrund und migrantischem Außenseitertum in die Luft geht, und das tut sie. Ahmed scheitert jedoch am Attentat auf seine liberal-muslimische Arabischlehrerin und landet in einer vorbildlichen Besserungsanstalt. Die tragische Ironie besteht darin, dass er dort viel Nachsicht und Sympathie antrifft, aber durch die ideologische Eintrübung seines Blicks zu sozialer Blindheit verurteilt scheint. Der Mutter gesteht er, die Leute vom Bauernhof, auf dem er arbeitet, seien ihm zu nett. Nirgends findet er eine Reibungsfläche. Außer auf dem Fußboden seiner Zelle, wo er heimlich seine Zahnbürste zu einem Mordwerkzeug anspitzt.

Die Dardennes wagen sich auf dünnes Eis, wenn sie ihren Film als Kommentar zu aktuellen Radikalisierungstendenzen muslimischer Jugendlicher meinen. Der Einfluss struktureller Ausgrenzung wird heruntergespielt; schuld sind der bigotte Wirrkopf von nebenan und der Islam selbst, weil er naiven Burschen mit Mutterkomplex eine riskante Projektionsfläche bietet. Doch den Film auf die simplen Erklärungsansätze zu reduzieren, die er über seine Handlung transportiert, würde die Qualität außer Acht lassen, die er über die authentische Körpersprache der Schauspieler und seine sinnlichen Details entfaltet.

Stadtkino im Künstlerhaus: Werkschau bis 24. September; Premiere von „Le jeune Ahmed“ am 18. 9., 20 Uhr, danach Videogespräch mit den Dardenne-Brüdern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2020)

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