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Gerechtigkeit und Solidarität in Europa: Win-win statt Zahn um Zahn

In diesem Dossier arbeitet die „Presse“-Redaktion das kontroverse Thema auf, wie gerecht und solidarisch die EU heute ist. Welche Instrumente stehen der EU zur Verfügung, was wünscht sich die Bevölkerung und wie sozial kann Europa sein? von Michael Laczynski, Wolfgang Böhm, Karl Gaulhofer und Oliver Grimm

Dieses Dossier wurde von der „Presse”-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet.

Es ist mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten sowie des Bundeskanzleramts möglich geworden und daher auch frei zugänglich.

Um die europäische Einigung zu ermöglichen, mussten ihre Architekten das alttestamentarische Konzept der Gerechtigkeit überwinden, das die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland angefeuert hatte.

von Michael Laczynski

Zu Beginn ein Gedankenexperiment: Angenommen, Sie haben die freie Wahl, in welchem Gesellschaftssystem – gegenwärtig oder historisch – Sie leben wollen. Welche Entscheidung würden Sie treffen? Würden Sie für das opulente Leben des britischen Adels à la Downton Abbey optieren? Für die antike Dekadenz des Imperium Romanum? Für die intellektuelle Stimulation der Renaissance? Für das Fin de siècle in Paris? Oder doch eher für die Europäische Union anno 2020?

Diese scheinbar harmlose Aufforderung, der Fantasie freien Lauf zu lassen, stammt aus der Feder des Philosophen John Rawls – und sie ist alles andere als harmlos, denn der 2002 verstorbene US-Amerikaner regte damit eine Debatte über gesellschaftliche Gerechtigkeit an. Rawls' Gedankenexperiment hat nämlich eine zweite Prämisse: Die Gesellschaftsform ist zwar frei wählbar, nicht aber die gesellschaftliche Position. Wenn Sie also keinen Einfluss darauf haben können, ob Sie Lord sein werden oder Butler, Patrizier oder Plebejer, Magnatin oder Magd – für welches System entscheiden Sie sich dann? Und nach welchen Kriterien treffen Sie die Wahl?

Hinter dem Schleier

Verbannt hinter den „Schleier des Nichtwissens“, wie Rawls diese Ausgangssituation genannt hat, fällt die Wahl schlagartig um einiges leichter. Das alte Rom ist ebenso out wie das feudale Mittelalter oder das viktorianische England – und die wünschenswertesten Vorstellungen nehmen allesamt eine ähnliche Gestalt an: Es sind grosso modo wohlhabende Gesellschaften, in denen nicht aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht diskriminiert wird; die vor dem Absturz sichern, aber nicht am Aufstieg hindern; die Krankheit und Elend nicht als individuell zu ertragendes Schicksal hinnehmen; die soziale und geografische Mobilität zulassen, politische Mitsprache gewährleisten, die Rechte des Einzelnen wahren und ihren Mitgliedern die Möglichkeit bieten, sich frei zu entfalten. Kurzum – es sind Gesellschaften, die der heutigen EU verdächtig ähnlich sehen.

Die Europäische Union im Zenit der Gerechtigkeit? Diese Vorstellung erscheint angesichts der vielen gegenwärtigen sozio-ökonomischen Krisen und Konflikte, auf die Brüssel keine Antwort zu wissen scheint, als krass übertrieben. Doch die Frage der Gerechtigkeit – oder, besser formuliert, die Frage der Überwindung einer archaischen Form der Gerechtigkeit – beschäftigte die Architekten des europäischen Einigungswerks von Anfang an. Ihnen ging es nämlich darum, aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu entkommen, an der die Erbfeinde Deutschland und Frankreich seit Jahrhunderten eifrig gedreht hatten.

»Solidarität ist heute vor allem Sache der EU-Mitglieder. Neue Krisen erfordern Lösungen, die über das Nationale hinausgehen.«

Nach dem Ersten Weltkrieg resultierten die französischen Forderungen nach gerechter materieller Wiedergutmachung der Kriegsschäden durch den deutschen Aggressor in Ressentiments im Reich – und bildeten den Hintergrund für den Aufstieg Adolf Hitlers. Nach 1945 waren sich alle Beteiligten einig, dass das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – es findet sich Hammurabi-Kodex, einem der ältesten Rechtstexte der Menschheitsgeschichte – im kriegsverwüsteten Europa keine Zukunft haben durfte. Um nicht wieder in den Schützengräben zu enden, mussten Deutschland, Frankreich und Italien über das alttestamentarische Konzept der Gerechtigkeit hinauswachsen und ihre Schicksale mit solidarischen Banden verknüpfen. Dieser Vertrauensvorschuss, der nach dem vielen Blutvergießen alles andere als selbstverständlich war, steht am Anfang der Union.

Die Jahre vergingen, die ursprünglich aus Kohle und Stahl geschmiedete europäische Gemeinschaft erhielt neue Funktionen und neue Mitglieder – und die Frage nach einem gerechten Miteinander wurde um eine neue, ökonomische Facette reicher. Im wirtschaftlichen Austausch musste berücksichtigt werden, dass manche Mitglieder weniger weit entwickelt waren als andere. Unter den Bedingungen des freien, nicht moderierten Wettbewerbs würden die Stärkeren die Schwächeren überrollen, die sich aufgrund der aus den vier Freiheiten des europäischen Binnenmarkts entwachsenen Verpflichtungen zur Offenheit nicht vor der ökonomischen Übermacht aus anderen Teilen der Union wehren könnten – neue Ressentiments wären die Folge. Daher der starke Fokus auf Fairness in der Wettbewerbspolitik, daher auch die von Brüssel aus verwalteten Zuschüsse und Dotierungen, die allesamt den Zweck haben, das Gefälle zwischen Ländern und Regionen zu nivellieren.

Wer glaubt, das Thema ökonomische Ungerechtigkeit auf dem gemeinsamen Binnenmarkt sei dank Brüssel längst Geschichte, irrt. Neue Entwicklungen bergen neue Gefahren in sich. So wurde etwa im Zuge der Coronapandemie deutlich, dass das finanziell gut aufgestellte Deutschland seine Unternehmen besser durch die Krise tragen kann als beispielsweise Spanien, das immer noch an den Folgen des Platzens der Immobilienblase 2008/2009 laboriert. Kann unter diesen Bedingungen der Post-Covid-Wettbewerb zwischen deutschen und spanischen Firmen gerecht sein? Diese Frage werden sich die Brüsseler Wettbewerbshüter bald stellen müssen. Und auch die Frage, ob maßgeschneiderte Steuerangebote an multinationale Konzerne fair sind, deren einziger Zweck es ist, diese ins eigene Land zu locken – und so die Steuereinnahmen der anderen Unionsmitglieder zu schmälern –, bedarf einer baldigen Antwort.

Braucht Solidarität Grenzen?

Dramatische Ereignisse wie die Coronapandemie führen den EU-Bürgern ein fundamentales Dilemma vor die Augen: Solidarität und gerechter Ausgleich sind und bleiben in den allermeisten Fällen Sache der Mitgliedstaaten. Doch das Ausmaß der innereuropäischen Verflechtungen und die Natur der neuen Krisen erfordern Lösungen, die über das Nationale hinausgehen. Es ist kein Zufall, dass in Brüssel angesichts der Herausforderungen – von Covid-19 über Migrationspolitik bis hin zur (eigentlich vereinbarten) gemeinsamen Sicherung der Bankeinlagen – so oft nach Solidarität gerufen wurde. Doch dieses alte Gefäß muss mit neuem Inhalt gefüllt werden. Althergebrachtes funktioniert im EU-Kontext nicht, steuerfinanzierte soziale Auffangnetze sind Domäne der Sozialstaaten – und nicht einer Europäischen Union, deren demokratiepolitische Legitimität ausbaufähig ist, um es vorsichtig zu formulieren, und die über keine Einnahmequellen verfügt, mit denen sich solidarische Maßnahmen finanzieren ließen.

Wie auch immer die laufende Debatte über eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung ausgehen mag – Fair Play muss das Betriebssystem Brüssels bleiben. Nur wenn das Prinzip der Gleichheit vor dem europäischen Recht über jeden Zweifel erhaben ist, können EU-Bürger und Unionsmitglieder jenes politische Urvertrauen entwickeln, das die Grundvoraussetzung für die Integration ist. Bisher hat sich dieses Vertrauen als ein erstaunlich stabiles Fundament erwiesen. Es liegt an uns allen, dass es weiter so bleibt.


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