Das Kind nicht sehen zu wollen macht es nicht leichter.

Die Alarm-App, das Kind, der Tod: über Sternenkinder

Meine Aufgabe sind Fotos. Nicht mehr, nicht weniger. Die Aufgabe meiner Frau reicht weit darüber hinaus. Sie weiß, was zu sagen ist. Sie kennt den Schockschmerz, die Ablehnung, das Negieren, das Nicht-sehen-Wollen. Wenn Kinder tot geboren werden: eine Selbsterfahrung.

Klick. Ich fokussiere mich auf die winzigen Zehen des Kindes. Klick. Sogar die Härchen sind zu sehen. Klick. Dieses feine Geräusch ist das Einzige, das zu hören ist im verstummten Raum. Klick.

Im Angesicht eines verstorbenen Kindes versinkt die Welt, entschwindet sämtliche Ordnung und Struktur des Tages. Stets werden meine Frau und ich aus dem Alltag gerissen, waren gerade mit irgendwelchen Dingen beschäftigt, die schlagartig keine Bedeutung mehr haben. Der Alarm reißt uns aus unserem Dasein, schleudert uns in die Welt der Konservierung allen Leids, das einer Mutter, einem Vater, einer Familie widerfahren kann: dem Klagelied des Todes und mit ihm die Infragestellung erschütterter Lebenskonzepte.

28. August, 19 Uhr. Ich bin dabei, ein paar Bretter am Schuppen neu zu verschrauben. Meine Frau steht an einem unserer Hochbeete. Die Alarm-App ignoriert die Stummschaltung. So soll es sein. Wir erschrecken nicht.

Nur wenige Angaben sind auf dem Bildschirm zu lesen: dreiundzwanzigste Schwangerschaftswoche. Kleiner Junge. Er ist bereits geboren. Ich habe die Wahl. Den Alarm annehmen oder Gegenteiliges. Ich nehme an. Und schon geht meine Frau ins Haus. Ich folge ihr, packe meine Tasche, während sie Babywäsche in verschiedenen Farben und Mustern zusammenstellt. Die Mutter soll die Wahl haben.

Ich logge mich in unser Sternenkind-Fotografenforum ein. Dort lese ich, die Eltern zögen es vor, nicht dabei zu sein, doch gerne hätten sie ein Erinnerungsbild. Dann eine Telefonnummer, wie üblich: unser Kontakt in die Klinik. Ich wähle die Nummer. Eine weibliche Stimme sagt mir, die Eltern seien mit den Bildern einverstanden, wollten das Kind jedoch nicht sehen. Ich kündige an, dass wir in wenigen Minuten da sein können. Empfangen werden wir von der an diesem Abend leitenden Hebamme. Sie sagt, die Mutter wolle das Kind nicht sehen.

28. August, 19.30 Uhr. Inzwischen wundere ich mich, wie sehr und auch oft es betont wird. Wir füllen den Covid-Fragebogen aus. Zum zweiten Mal in zwei Tagen. Sogar die Schwangerschaftswoche unserer beiden Einsätze deckt sich fast. Mir kommt der Gedanke, dass Sternenkinder in Wellen kommen, und lasse das Prozedere beim Betreten der Klinik über mich ergehen.

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