Leitartikel

Das langsame und das schnelle Recht

30 Jahre „Rechtspanorama“. Heute vor 30 Jahren ist die erste Ausgabe des „Rechtspanoramas“ in der „Presse“ erschienen. Zum Jubiläum bringen wir Beiträge rund um die Fragen, was Demokratie braucht und wie Krisen das Recht formen.
30 Jahre „Rechtspanorama“. Heute vor 30 Jahren ist die erste Ausgabe des „Rechtspanoramas“ in der „Presse“ erschienen. Zum Jubiläum bringen wir Beiträge rund um die Fragen, was Demokratie braucht und wie Krisen das Recht formen.
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Die österreichische Bundesverfassung feiert den 100. Geburtstag, „Die Presse“ den 30. unseres „Rechtspanoramas“. An dieser Stelle die leise Empfehlung an die Politik, beides zu beachten.

Die Kreativität bei Namensfindungen und Begrifflichkeiten lässt mitunter einen tiefen Blick auf das österreichische Unterholz und den Umgang mit dem wichtigsten Kompass der Gesellschaft zu: dem Recht. Da gibt es sogenannte Kavaliersdelikte oder – fast noch absurder – die Formulierung „Realverfassung“. Dieses Kunstwort impliziert, dass die österreichische Bundesverfassung, über deren Eleganz sich streiten lässt, nicht real, also nicht so wichtig sei.

Stattdessen gäbe es eine andere Verfassung, die offenbar Traditionen oder Machtpolitik folgen dürfte. Die dürfte dann Sätze beinhalten wie „Das Recht geht vom Landeshauptmann aus“ und das Drehbuch diverser Satiren darstellen, die übrigens immer häufiger mit dem Zusatz „Real“-Satire Absurditäten und politisch-rechtliche Vergehen – wie sie im Ibiza-Video zu sehen waren – verharmlosen. Nein, es gibt keine Realverfassung, es gibt eine Bundesverfassung, der auch die Regierung unterstellt ist. Ist sie das nicht, ist sie nicht legitimiert.

Dass der 100. Geburtstag unserer Verfassung – den wir mit dieser Schwerpunktausgabe zeitgleich mit dem 30. Jubiläum von Benedikt Kommendas „Rechtspanorama“ in der „Presse“ begehen – in das sehr schwierige Coronajahr fällt, ist für die Liebhaber von großen Staatsempfängen wegen Entfalls derselben traurig, aber zugleich ein sehr guter Anlass, auf den Umgang mit dem Recht, der Verfassung und der in der Demokratie so wichtigen Gewaltenteilung zu fokussieren.

Tatsächlich nahmen es die Regierungen der vergangenen Jahrzehnte nie genau, die Regierung als Exekutive übernahm meist auch die Rolle der Legislative, die Gesetze wurden in den Ministerien geschrieben, im Parlament wurden sie häufig mit breiter Mehrheit einer Großen Koalition durchgewinkt. Zu hören war dort meist nur die Opposition, die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem National- oder Bundesrat wurde für die Kanzler und ihre Minister zur lästigen Pflicht. Was Österreich demokratiepolitisch nicht guttut.

Selten wie nie zeigen sich nun die Schwächen unseres politischen Apparats. Dank der Verordnungsfehler für einzelne Lockdown-Maßnahmen wissen wir nun um die eigentliche vierte Gewalt im Land: die administrative. Geht es wirklich um Regeln und Leben, um Sperrstunden und Beschränkungen, formulieren eben die Beamten per Verordnung die Entscheidungen. Wenn am Freitag die Austria Presse Agentur vermeldet, dass bis zum Frühling die Home-Office-Gesetzesänderungen stehen sollen, ist das nicht nur unfreiwillig komisch, sondern zeigt: Wir leben in einem Land mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Anders formuliert: Die Exekutive, konkret etwa der Bundeskanzler, ist zu schnell für die Legislative. Auch das sollte sich bitte wieder ändern.

Und in einem Punkt sei ebenfalls Kritik angebracht: Die Idee, bei der Corona-Gesetzgebung könne man zur Lebensrettung oder zum Schutz der Menschen die Grundrechte kurzfristig aushebeln, ist keine gute. Der Rechtsstaat muss stärker sein als jede Krise. Der Rechtsstaat kennt kein Provisorium. Man kann in der Krise bemerken, dass man ihn anders gestalten oder regeln muss. Dann kann man das nach eingehender Debatte und mit entsprechender Mehrheit auch tun.

Leider wird der Appell, die richtigen Lehren aus dieser schweren Zeit zu ziehen, in der Sekunde nicht mehr gehört werden, wenn sie vorbei ist. Aber noch geht es: Wir müssen dringend über nationale und europäische Kompetenzen beziehungsweise Regeln reden. Was die EU-Länder gerade mit den gegenseitigen Reisewarnungen üben, erinnert an die Zeit, als es noch keine Nationalstaaten, sondern unzählige Grafschaften, Herzogtümer und andere absurde kleinstaatliche Territorialgefäße gab. Dass Gesundheitspolitik fast überall Ländersache und nie EU-Sache sein darf, könnte man zumindest diskutieren, so wie die Frage, wer wie viele Asylwerber aufnimmt.

„Die Presse“ widmet sich unter Führung von Benedikt Kommenda und der starken Mitarbeit von Philipp Aichinger seit 30 Jahren der publizistischen Rechtspflege. Am Anfang stand das kluge Motiv, die Anwälte an diese Zeitung zu binden, mittlerweile ist das Ressort „Recht“ zu einer wichtigen Einheit und Dokumentationsstelle der „Presse“ geworden. Die Rechtskompetenz ist längst eine der zentralen unseres Hauses. Dafür danke ich den Kollegen – und den vielen Rechtsspezialisten, die mit ihren Texten das „Rechtspanorama“ noch weiter aufwerten.

30 Jahre Rechtspanorama

Dieser Artikel ist Teil unseres Schwerpunktes zum 30. Geburtstag des "Presse"-Rechtspanoramas. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Was braucht Demokratie? Wie prägen Krisen das Recht? Mehr auf www.diepresse.com/recht

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2020)

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