Home-Schooling

Auf der Suche nach den verlorenen Schülern

Home-Schooling funktioniert nicht für alle: Tausende Schüler waren während des Lockdowns plötzlich nicht mehr erreichbar – weil ihnen der digitale Anschluss fehlte oder weil zu Hause an Lernen nicht zu denken war. Was passiert, wenn Schulen erneut schließen? Experten meinen: Viele Kinder werden wieder verschwinden.

Milo geht nicht gern in die Schule. Der elfjährige Bub ist ein wenig übergewichtig und oft krank. Seine Mitschüler hänseln ihn, Freunde hat er kaum. Die Noten sind schlecht. Sein Schulweg ist weit, oft kommt er zu spät – und steht dann vor einem verschlossenen Tor, weil die Schule sofort nach dem Läuten zugesperrt wird. Dann kehrt Milo weinend heim.

Als im März 2020 der Lockdown kommt, verbringt er viel Zeit mit seinem Handy, auf YouTube. Von der Schule hat Milo einen Papierstapel mit Aufgaben mit nach Hause bekommen. Er soll sie ausfüllen und zurückschicken, doch das macht er nicht. Auch auf die E-Mails der Lehrer antwortet er nicht. Nach ein paar Wochen landet Milo auf einer Liste, die seine Schule an die Wiener Kinder- und Jugendhilfe schickt: mit den Namen jener Schüler, die seit der Schulschließung nicht mehr erreichbar sind. Man könnte sagen: die untergetaucht sind.

Milo heißt nicht wirklich so, doch es gibt ihn. Und er ist einer von Tausenden, zu denen die Lehrer im Lockdown den Kontakt verloren haben. Die Stadt Wien ließ Anfang April mittels Fragebögen nachzählen: Demnach waren nach zwei Wochen Fernunterricht 2,4 Prozent aller Schüler an Volks-, Mittel-, Sonderschulen und AHS nicht erreichbar – das sind insgesamt über 3300 Schüler. Bildungsminister Heinz Faßmann zufolge nahmen österreichweit gar 6,8 Prozent der Sechs- bis 14-Jährigen nicht am Distance Learning teil.

Erklärt wurde das vor allem mit einem Gerätemangel. Wer keinen eigenen Laptop oder keine stabile Internetverbindung hat, kann dem Mathe-Unterricht via Videokonferenz nun einmal nicht folgen. Also wurden Computer und Tablets verteilt – die, wie Lehrer berichten, in vielen Fällen tatsächlich halfen. Eine NMS-Direktorin erzählt gar von einem Paket voller WLAN-Sticks, das wundersamerweise ohne Absender bei der Schule ankam.

Die Sozialarbeiterin Monika Wolf unterstützte im Lockdown Familien, die auf die Anrufe der Schule nicht mehr reagierten.
Die Sozialarbeiterin Monika Wolf unterstützte im Lockdown Familien, die auf die Anrufe der Schule nicht mehr reagierten.Caio Kauffmann

Mehr als Schulverweigerung. Doch fehlende Hardware ist nur ein Teil des Problems, erklärt die Sozialarbeiterin Monika Wolf. Sie arbeitet für eines der Schulkooperationsteams der Stadt Wien. Diese Soforthilfetrupps sind zur Stelle, wenn es Schwierigkeiten mit Kindern gibt, die aber nicht so akut sind, dass eine Gefährdungsmeldung an das Jugendamt nötig ist. Im Lockdown waren Wolf und ihre Kollegen auch damit beschäftigt, verlorene Schüler wieder einzufangen. Die Gründe für das Phänomen sind vielseitig, sagt sie: „Das ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern ein soziales. Wenn ein Kind nicht in die Schule geht oder nicht teilnimmt am Distance Learning, steckt mehr dahinter als Schulverweigerung.“

Sie erzählt von den Familien, mit denen sie zu tun gehabt hat: Da gab es die türkischen Eltern, die nicht Deutsch sprachen – und davon ausgingen, dass das Schuljahr vorzeitig beendet war. Eine alleinerziehende Mutter von drei Schulkindern war durchgehend im Home-Office, musste 40 Stunden lang erreichbar sein, brauchte den einzigen Laptop für ihre Arbeit. Die E-Mails der Schule las sie gar nicht: „Sie hat sich gedacht, sie schafft das nicht. Die Schule war da nicht das Wichtigste.“

Oft waren finanzielle Probleme, beengte Wohnverhältnisse und psychische Überlastung im Spiel. Eine Mutter hatte Verwandte an Covid-19 verloren und extreme Angst vor einer Ansteckung: „Sie war psychisch so fertig, dass sie für schulische Dinge keinen Kopf hatte.“ Und in manchen Fällen nutzten Schüler die Situation aus, sodass ihre Eltern über das Distance Learning nicht Bescheid wussten – oder sich nicht durchsetzen konnten: „Ich krieg ihn einfach nicht zum Lernen!“, sagte eine Mutter zu Wolf, als diese an ihre Tür klopfte, und zeigte auf ihren Burschen: Die Sozialarbeiterin möge streng mit ihm sein.

Auch Milos Mutter hatte nicht die Kraft, ihren Sohn zum Lernen zu bewegen. Sie hob gleich beim ersten Anruf von Monika Wolf das Telefon ab. Sie war arbeitslos, die ältere Tochter hatte durch die Pandemie ihre Lehrstelle verloren, eine Monatsmiete war offen. Sie gab an, keinen Zugang zu E-Mails und keine Telefonnummer der Schule zu haben. Einen geordneten Tagesrhythmus gab es seit dem Lockdown nicht – und Milo, ihren einzigen Sohn, ließ sie gewähren. Wolf begleitete die Familie durch die ganze Coronazeit, half, einen Antrag an „Licht ins Dunkel“ zu stellen, um den Mietrückstand begleichen zu können, erklärte den Schulbetrieb, vermittelte zwischen Milos Mutter und den Lehrern, half bei der Strukturierung des Tages – damit Milo etwa zu einem Schulbuch kam, das im Klassenzimmer lag; Zutritt dorthin gab es nur zwischen 7.45 und 8 Uhr. „Es ist schleppend losgegangen“, sagt Wolf. Doch die Mutter sei dankbar gewesen: „Sie war froh, dass sich jemand die Zeit nimmt, ihr zu helfen.“

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