Wort der Woche

Theorie und Praxis

Viele Technologien für die Energiewende sind noch weit von der Praxistauglichkeit entfernt. Ohne technologische Fortschritte wird man die Dekarbonisierung nicht schaffen, so die IEA.

Die Bundesregierung macht nun also Ernst mit der Dekarbonisierung der Energieversorgung. Durch das eben in Begutachtung gesandte Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz (EAG) sollen bis zum Jahr 2030 hundert Prozent des Stroms (bilanziell) aus erneuerbaren Quellen stammen. Derzeit sind es gut 70 Prozent. Die Lücke soll vor allem mit Solar- und Windenergie, aber auch mit Strom aus Wasserkraft und Biomasse gefüllt werden. Der Aufwand dafür ist enorm: Die Ökostrom-Förderungen werden um ein Drittel auf jährlich rund eine Mrd. Euro steigen.

Das ist indes erst der einfachere Teil der Übung, denn mit dem Umbau der Stromproduktion sei erst „ein Drittel des Weges“ geschafft, heißt es in den kürzlich veröffentlichten „Energy Technology Perspectives 2020“ der Internationalen Energieagentur (IEA; www.iea.org). Nach dem Stromsektor warten mit dem Industrie- und dem Transportsektor noch viel härtere Nüsse. Das Hauptproblem: Für zumindest 40 Prozent der nötigen CO2-Einsparung gibt es noch keine kommerziell verfügbaren Technologien. Die IEA-Experten haben 400 klimafreundliche Technologien analysiert und nach deren „Technology Readyness Level“ (TRL), ihrem Reifegrad, bewertet. Diese Maßzahl wurde in den 1970er-Jahren von der Nasa entwickelt und hat sich in vielen Bereichen etabliert (so auch im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020). Ein TRL von 1 bedeutet, dass gerade einmal ein Konzept formuliert wurde. Ab einem TRL von 3 spricht man von Prototypen, ab TRL 7 beginnt die Demonstrationsphase. Die frühesten Anwendungen werden mit einem TRL von 9 eingestuft, die Praxisreife mit 11.

Die Reifegrade unterscheiden sich in verschiedenen Sektoren stark: Während viele Ökostrom-Technologien einen TRL zwischen 9 und 11 aufweisen und damit als relativ reif gelten, liegt der TRL von klimafreundlichen Verfahren in der Schwerindustrie oder der Zementproduktion typischerweise nur zwischen 4 und 7. Ähnlich unreif sind CO2-sparende Technologien im Luft- und Schiffsverkehr, geringfügig reifer sind Alternativen zu fossilen Treibstoffen im Schwerlastverkehr (TLR 5 bis 9).

Das bedeutet: Sollen die CO2-Emissionen bis zur Jahrhundertmitte wirklich gegen null gehen (wie im Pariser Weltklimavertrag vereinbart), müssen Forschung und Innovation deutlich vorangetrieben werden. Andernfalls wird man – selbst bei 100 Prozent Ökostrom und dessen großflächigem Einsatz in Industrie und Verkehr – buchstäblich auf halbem Weg stecken bleiben. ⫻

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

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