Kapitalismus

Der Markt lehrt uns die Moral

Wettbewerb, Gier, Ausbeutung: Der Kapitalismus gilt nicht gerade als Schule der Menschlichkeit. Aber Anthropologen zeigen: Erst freier Handel bringt uns dazu, zu jedermann fair zu sein.

Einst lebten wir am Land, in kleinen Dörfern, ohne Terminstress, Geldgier und Konkurrenzdruck. Jeder kannte jeden, die Menschen hatten füreinander Zeit und halfen sich gegenseitig. Dann mussten sie in die Städte ziehen und sich von Fabriksherren ausbeuten lassen. Ihre Arbeit wurde zur Ware degradiert, sie fühlten sich entfremdet. Heute pfeift uns der eisige Wind des Wettbewerbs um die Ohren, jeder kämpft für sich, auch Nachbarn grüßen wir nur flüchtig. Man muss kein Marxist sein, um diesem Narrativ zu folgen. Wir denken: So ist das eben im Kapitalismus, er hat uns dafür Wohlstand gebracht, und alles hat halt seinen Preis. Es geht uns heute materiell gut, aber kuscheliger war es früher. Nur: Stimmt das auch?

Im Sommer 1994 paddelte der junge Anthropologe Joseph Henrich mit seinem Kanu durch den Amazonasdschungel im Südosten Perus. Er besuchte ein indigenes Volk namens Matsigenka. Im Rucksack hatte er auch ein Experiment von Verhaltensökonomen, das als „Ultimatum-Spiel“ bekannt ist. Es geht so: Ein Spielleiter gibt Ihnen 100 Euro. Sie sollen diese Gabe mit einer zweiten, Ihnen unbekannten Person irgendwie aufteilen, nach Ihrem Gutdünken. Sie können auch alles behalten. Aber die Mitspielerin kann die Aufteilung ablehnen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Dann bekommen beide nichts. Wie viel geben Sie her? Die meisten Amerikaner und Europäer, mit denen man das Spiel erprobte, wählten halbe-halbe, der Schnitt liegt bei 48 Prozent.

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