Am Herd

Über Konzentration in Zeiten von Corona

Mittlerweile geht es wieder. Mittlerweile kann ich wieder versinken.
Mittlerweile geht es wieder. Mittlerweile kann ich wieder versinken. (c) imago/imagebroker (imageBROKER/Johannes Geyer)
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Ich kann seit März keine Filme mehr sehen. Und auch keine Serien. Andere haben aufgehört, Romane zu lesen. Über Konzentration in Zeiten von Corona.

Mittlerweile geht es wieder. Mittlerweile kann ich wieder versinken. Da ist mir egal, ob es regnet oder die Sonne scheint, und es kümmert mich auch nicht, wenn die Zahlen steigen. Da gibt es mich und das Buch, mich und diese Geschichte – die Frau mit elf Geschwistern hat ihren Bruder verloren! –, und so lange noch Seiten übrig sind, die ich umblättern kann, das letzte Wort noch auf mich wartet, möchte ich bitte, bitte nicht gestört werden. Und so vergeht der Samstag.

Wie schön!

Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da konnte ich mich nur auf Artikel, Statistiken und medizinische Studien konzentrieren, stets auf der Suche nach einem neuen, nach dem vielleicht alles entscheidenden Häppchen Information, das es mir ermöglichen würde, in die Zukunft zu sehen, das mir sagt, wann die Geschäfte wieder öffnen, das Büro sich belebt, die Flüge ans Meer wieder abheben können. Wenn ich versuchte, meine Gedanken an etwas anderes zu heften, ein Buch, eine Serie, Musik, dann drifteten sie ab, verteilten sich wild wie Aerosole im Raum, und ich saß da und begann den Satz von vorn beziehungsweise spulte zurück, bis ich schließlich aufgab und meine Zeit auf Twitter vertrödelte.


Zeiten der Unruhe. Die meisten von uns haben solche Zeiten der Unruhe erlebt. Die meisten haben sie überwunden. Doch bei manchen ist etwas zurückgeblieben. Es gibt Kollegen, die mögen keine Bücher mehr lesen. Freundinnen, denen macht Musikhören keinen Spaß mehr. Und ich habe eine seltsame Konzentrationsschwäche für Filme und Serien behalten. Ich stöbere ein bisschen auf den diversen Streaming-Plattformen herum, klicke einmal hier, einmal da etwas an, aber nichts will mich fesseln, keine Soap, keine Komödie, kein Oscar-prämierter Film, nicht einmal „The Boys“, auf deren zweite Staffel ich mich so gefreut habe in der Hoffnung, sie könnte den seltsamen Bann brechen. Manchmal kaufe ich Popcorn, aber das verstaubt im Vorratsschrank, und irgendwann essen es dann die Kinder.

Flüchte ich mich in Bücher, weil sie mir als Teenager durch meine erste große Krise geholfen haben? Hat jeder „sein“ Krisenmedium? Ich jedenfalls sehne mich nach den Zeiten, da ich eine Serie einfach so „durchsuchten“ konnte, Folge um Folgen um Folge. Ich ärgere mich, dass mir diese Form der Entspannung nicht mehr offensteht. Aber ich denke, es ist ein Zeichen: Es ist eben nicht alles okay. Ich habe mich keineswegs an diese „neue Normalität“ gewöhnt. Und auch wenn ich es nicht wahrhaben will: Die Angst schwelt noch, irgendwo da drin. ⫻

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

www.diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2020)

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