Mit Federn, Haut und Haar

Zweig, Freud, Maria Stuart und die menschliche Natur

Zeitlos bleibt Stefan Zweigs Darstellung der Kausalitäten menschlichen Verhaltens – obwohl aus heutiger Sicht seine sexistische Macho-Sicht zu befremden vermag.

In meiner Oberstufenzeit vergewaltigte ein in Deutsch dilettierender Sportlehrer Goethe und Schiller; den „unbedeutenden Rest“ der Literatur und die faszinierende Zeit um 1968 verdrängte er mittels „Kicken“.

Das erzeugte Leere und privaten Lesehunger. Meine Liste umfasste damals neben Jack Kerouac auch Hermann Hesse, nicht aber Stefan Zweig. Seit 1902 Mitarbeiter der „Neuen Freien Presse“, lebte der von 1919 bis zu seiner Flucht nach England 1938, auf dem Mönchsberg meines Studienortes Salzburg. Später vergrub sich das vielschreibende Multitalent mit Faible für Autografen in das reichhaltige Londoner Archivmaterial zu Maria Stuart. Zweig beherrschte sein Handwerk als Historiker ebenso, wie als Journalist oder Schriftsteller. Er tauschte sich unter anderem intensiv mit Sigmund Freud aus, der ihm 1938 ins Londoner Exil folgen musste. Als Freud 1939 starb, hielt Zweig die Abschiedsrede. Zutiefst deprimiert über die Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ nahm er sich schließlich 1942 in Brasilien das Leben.

In diesem seltsamen Coronasommer fiel mir Stefan Zweigs Biografie von Maria Stuart (1935) in die Hände, ein wuchtig-spannender historischer Krimi, der in seinem vielschichtigen Tiefgang fesselt, fasziniert, erhellt und verstört. Im Kontext des 16. Jahrhunderts ziseliert Stefan Zweig eine detailreiche Studie menschlichen Verhaltens. Es war eine Zeit des Umbruchs, vom Mittelalter in die Renaissance, vom Katholizismus in eine kalvinistische Reformation, am Horizont die Gegenreformation.

Maria Stuart geriet als französische, dann schottische katholische Königin alten Zuschnitts zwischen alle Fronten eines raffinierten Machtpokers. Zweig beschränkt sich nicht bloß auf die „Fakten“, zumal die vielen überlieferten Dokumente kein klares Bild ergeben, sondern ein Ränkespiel von allzeit rekordverdächtiger Komplexität abbilden. Und auch damals bestimmte der Standpunkt „die Wahrheit“. Machiavelli war der Taktgeber für ein virtuoses Spiel, in dem Maria Stuart 1587 endgültig unterlag; erstmals in der europäischen Geschichte endete eine gesalbte Königin unter dem Henkerbeil – nicht bloß als armes Opfer, sondern als stolze Mittäterin.

Stefan Zweig interpretiert das Gewirr der Ereignisse und Intrigen stimmig im damals noch frischen Rahmen der Freudschen Psychologie. So versteht man, wie und warum Menschen im Kampf um Macht und Ansehen zwar problemlos über Leichen gehen, dennoch aber den Anschein einer höflich-wertschätzenden Menschlichkeit wahren wollen.

Zweig modelliert den extremen Kontrast zwischen der in ihrem spätmittelalterlichen, hochfahrend-selbstzentrierten Königinnentum gefangenen Maria Stuart und ihrer Rivalin, Partnerin, Verbündeten und Erzfeindin Elisabeth I. von England, einer Strategin und modernen Teamspielerin, für die einzig die Rationalität der Macht zählt. Elisabeth legt damit in ihrer langen Regentschaft den Grundstein für die weltweite Hegemonie Englands, schließt Frieden mit Frankreich und Schottland, drängt die Spanier zurück, tötet widerwillig Maria Stuart, um deren Sohn als James I. auf den englischen Thron zu heben. Zeitlos bleibt Stefan Zweigs Darstellung der Kausalitäten menschlichen Verhaltens – obwohl aus heutiger Sicht seine sexistische Macho-Sicht zu befremden vermag. Mehr dazu in zwei Wochen, ab jetzt jeden zweiten Montag statt wie bisher Dienstag.

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