Morgenglosse

Weltpolitikunfähiges Europa

Die 27 EU-Chefs einigen sich nur spät und unter größten Verrenkungen auf Sanktionen gegen das belarussische Regime. Jenes in Ankara kommt ungeschoren davon. Sie sollten fortan auf Sonntagsreden über die „Weltmacht Europa“ verzichten.

Vor zwei Jahren, in seiner letzten Rede zur Lage der Union als Präsident der Europäischen Kommission, warf Jean-Claude Juncker den Begriff der „Weltpolitikfähigkeit“ in die politische Manege. Was meinte er damit? „Die Fähigkeit, die Geschicke der Welt als Union mitzugestalten.“ Denn: „Es ist an der Zeit, dass Europa zum souveränen Akteur auf der Weltbühne wird.“ Und er schob den Grund nach, weshalb seiner Ansicht nach die EU diese Weltpolitikfähigkeit im siebten Jahrzehnt ihres Bestehens noch immer nicht erreicht hat: „Immer wieder stellen wir fest, dass wir zu konsensuellen einstimmigen Beschlüssen nicht fähig sind."

Man kann Juncker wegen so mancher Fehleinschätzung kritisieren, hier jedoch sprach er ein wahres Wort gelassen aus. Am Beispiel des aktuellen Europäischen Ratstreffens in Brüssel veranschaulicht sich die Uneinigkeit der 27 EU-Chefs in wesentlichen Fragen, die man schlüssig beantworten sollte, wenn man die Geschicke der Welt mitgestalten will. Gewiss: die Einigung knapp vor ein Uhr morgens, doch noch Sanktionen gegen die Häscher des belarussischen Autokraten, Alexander Lukaschenko, zu verhängen, wird nun als Beleg europäischer Handlungsfähigkeit verkauft. Doch diese Sanktionen kommen fast zwei Monate nach der gezinkten Wiederwahl Lukaschenkos: spät, vielleicht zu spät, denn die gesamte Führung der mutigen demokratischen Opposition ist ins Exil verjagt oder inhaftiert.

Natürlich ist es verständlich, dass sich das kleine Zypern bis zuletzt an sein Vetorecht klammerte und Sanktionen gegen das Minsker Regime blockierte, solange es nicht zumindest die Androhung solcher gegen die völkerrechtswidrigen Öl- und Gasbohrungen der Türkei in zyprischen Gewässern gab. Doch diese beiden Probleme sind nicht gleichartig. Das lange Zögern der EU hat zur Folge, dass Lukaschenkos Handlanger - tatkräftig vom Kreml unterstützt - die mutige belarussische Opposition binnen weniger Wochen brutal dezimieren konnte. Die türkischen Muskelspiele in der Ägäis sind unverfroren, und sie müssen gleichfalls sanktioniert werden. Unmittelbar lebensbedrohend sind sie nicht.

Zahlreich sind nun die Stimmen, die eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in Fragen der europäischen Außenpolitik fordern. Doch sie liegen falsch. Einem Mitgliedstaat - noch dazu einem der kleinsten - eine für ihn existenzielle außenpolitische Entscheidung per qualifizierten Mehrheitsbeschluss aufzuzwingen, wäre brandgefährlich. Es würde das ohnehin latente Gefühl, über die Kleineren werde in der EU drüber gefahren, vertiefen. Das würde das Band des Vertrauens zwischen den 27 noch mehr schwächen. Doch dieses ist die Grundlage für außenpolitische Beschlüsse, denen sich alle Mitglieder der Union verpflichtet fühlen. Und somit die Voraussetzung dafür, eines fernen Tages doch noch weltpolitikfähig zu werden - statt nur in Sonntagsreden darüber zu schwadronieren.

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