Der Thriller um die Pille

Die turbulente Geschichte der Pille gleicht einem exzellent komponierten Thriller - vor allem aus österreichischer Perspektive.

Physiologisches Institut Uni Innsbruck, Frühjahr 1919: Wer jenen Mann, der hier mit dem Skalpell Kaninchenbäuche bearbeitet, als Spezialisten für schwangere Hasen bezeichnet, trifft es haarscharf – und unterzieht Ludwig Haberlandt doch einer gnadenlosen Unterbewertung. Denn der Chemiker legte mit Transplantationsexperimenten an trächtigen Kaninchen den Grundstein für den zentralen Mechanismus moderner Verhütungsmittel: den perfekten hormonellen Betrug. Durch Zufuhr von Sexualhormonen wird dem Körper der befruchtete Zustand vorgetäuscht, die Heranreifung weiterer Eizellen und somit eine Schwangerschaft verhindert.

Haberlandt improvisierte die Hormongabe, in dem er Eizellen schwangerer Kaninchen in die Körper ihrer Artgenossinnen verpflanzte. Da Letztere nicht mehr trächtig wurden, schloss Haberlandt auf den kontrazeptiven Effekt der Transplantate – diese waren demnach, großzügig formuliert, die lebendige Urform der Pille. Trotz seiner Genialität geriet Haberlandt jedoch bei Kollegen, die moralische Bedenken hatten, in Misskredit: Als Verbrecher am ungeborenen Leben angefeindet und ohne angemessenen beruflichen Erfolg beging er 1932 Selbstmord.

Sein Suizid stand am Beginn einer dunklen Periode der Pillengeschichte: Das Mutterkreuz der Nazis war der in Edelmetall gegossene Gegensatz zu Haberlandts Vision eines liberalen Umgangs mit Kontrazeption, der Holocaust zwang viele Wissenschaftler zur Emigration. Einen von ihnen, den 25-jährigen Carl Djerassi, verschlug es 1938 von Wien aus gen Süden: In Mexiko-Stadt gelang ihm 1951 die Synthese des ersten oral aktiven Gestagens der Welt.

Einfach war es in den Fünfzigerjahren allerdings nicht, Geld für die Entwicklung einer Pille zu lukrieren – bis eine streitbare New Yorkerin auf den Plan trat: Die Krankenschwester Margaret Sanger hatte zuviel an Leid um wiederkehrende Geburtsanstrengungen gesehen, um passiv zu bleiben. Dass sie die Millionärin Katherine McCormick davon überzeugte, die Entwicklung der ersten Pille „Enovid“ zu finanzieren, ist wohl eines der erfolgreichsten Beispiele für weibliches Networking: Das Präparat kam am 18. August 1960 auf den Markt.

Schauplatzwechsel ins Wiener Krapfenwaldbad, 1963. Der 17-jährige Werner Grünberger, Sohn eines bekannten Gynäkologen, genießt seine Popularität am Beckenrand: „Ich war ein Star, weil ich Musterpackungen der Pille hatte, Mädchen hätten sie nie einfach so bekommen.“ Neben der Sorge um Nebenwirkungen bewirkte auch die strenge Sexualmoral, dass die Pille viele Frauen nur durch das Schlupfloch Regelbeschwerden erreichte: „Man hat im Wartezimmer so getan, als ginge es um Schmerzen“, so Grünberger, heute Gynäkologe und Gründer der „First Love“-Sexualberatungsstellen.

Rein pharmazeutisch war die Pille damals vor allem eines – hoch dosiert: „Ich konnte an den hervortretenden Adern, an den geschwollenen Brüsten sehen, wer die Pille nahm – Ende der 60er waren das viele“, erinnert sich Grünberger. Das passt zur Statistik: Der „Pillenknick“ lässt die Geburtenzahlen zwischen 1963 und 1970 um 17 Prozent sinken, bis 1990 um weitere 20 Prozent. Die Pille wird zum Emanzipationsmotor, sie passt perfekt ins Leitbild der 68er-Revolution – nichts zuvor ermöglichte so einfach ein freizügiges Sexualleben und, wenn erwünscht, die kontrollierte, spätere Wunschgeburt.

Unter manchen jungen Frauen avancierte das Pillenpäckchen gar zum Statussymbol: Bei einer Umfrage im Grinzinger Billrothgymnasium war 1965 rund ein Viertel der Pillenkonsumentinnen Jungfrau. Sie schluckten dennoch Hormone. Wohl teils wegen Regelschmerzen, aber auch, um „mit dabei“ zu sein. Und das, obwohl ab 1961 erste Thrombose-Todesfälle mit der Pille assoziiert wurden.

Heute wird die Pille laut UN-Bevölkerungswerk UNFPA von 100 Mio. Frauen weltweit konsumiert – obwohl sich Bayer in den USA mit 2700 Klagen konfrontiert sieht (siehe Artikel oben).

Der mutige Haberlandt erfuhr leider nie vom Erfolg seiner Idee. Carl Djerassi hat ihn später als „Großvater der Pille“ geehrt. Ein schwacher Trost.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2010)

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