Österreichs rätselhafte Rituale

Von Weisungen,die niemand erteilt, und von Entschuldigungen,die nicht um Verzeihung bitten.

Meine erste Begegnung mit der Abgründigkeit des österreichischen Deutsch hatte ich in der Straßenbahn. Da war ein Schild angebracht, auf dem stand in schwarzer Schrift auf silbernem Grund: „Bitte sich festzuhalten“. Das Seltsame an dieser Anweisung ist, dass sie streng genommen niemanden anweist. Eine sprachlich korrekte Aufforderung würde lauten: „Bitte halten Sie sich fest!“, oder: „Bitte festhalten!“ Und wenn die umständliche Nennform schon sein muss: „Wir bitten Sie, sich festzuhalten.“ In dieser Version wäre auch klar, wer hier wen auffordert: „Wir, die Wiener Verkehrsbetriebe, bitten Sie, die Fahrgäste, sich festzuhalten.“

Das Wort „bitte“ ist eine Zauberformel, die Befehle erträglich macht, sie wendet sich direkt an ein Gegenüber und meint: Ich fordere dich zu etwas auf, aber ich respektiere dich. Darum befehle ich nicht, ich bitte dich. Bitte ist das „Sesam, öffne dich!“ aus Kindheitstagen. Wollen wir einem Kind beibringen, wie es sozial verträglich (und damit erfolgreich) fordert, dann sagen wir: „Wie sagt man?“

Die Aufforderung „Bitte sich festzuhalten“ führt im Grunde in die Irre. Sie beginnt scheinbar mit der Höflichkeitsformel „bitte“, aber dieses „bitte“ verwandelt sich beim Weiterlesen unversehens in ein Nomen, in „die Bitte“, etwas zu tun, nämlich sich festzuhalten. Es steckt etwas Kafkaeskes in diesem bruchstückhaften Amtsdeutsch: Da steht plötzlich eine Bitte im Raum, man weiß nicht recht, wer sie ausspricht, sie ist einfach da. Man erfährt nur vage, an wen sie sich wendet, und doch fühlt sich jeder angesprochen. Es ist ein durch und durch österreichisches Phänomen: eine erteilte Anweisung, die ihre Autorität aus dem Unausgesprochenen zieht.


Etwas Ähnlichespassiert hierzulande mit dem Wort „Entschuldigung“, das häufig gerade dann zum Einsatz kommt, wenn es besonders unversöhnlich zugeht. Die Deutschen kennen zwar auch die Redensart „Na, entschuldigen Sie mal!“. Und was immer dann folgt, es ist sicher keine Bitte um Verzeihung. In Österreich jedoch begegnet einem diese Zweckentfremdung auf Schritt und Tritt, hier ist sie mit gezogenem Klagelaut fixer Bestandteil jeder Rhetorik: „Entschuuuldigung“ oder in der Steigerungsform „Entschuuuldige, bitte“. Immerfort wird unversöhnlich für etwas um Verzeihung gebeten, das noch gar nicht gesagt ist und das, Entschuldigung!, jetzt unbedingt einmal gesagt gehört.

Hinzu kommt ein Phänomen, das für deutsche Ohren höchst kurios ist; wird einmal eine echte Entschuldigung ausgesprochen, etwa für ein Versehen, dann wird man erstaunlich oft von wildfremden Menschen geduzt: „Entschuldige!“ Ich frage mich, ob das wirklich ein Duzen ist oder am Ende nicht etwas ganz anderes. Womöglich eine verkürzte Form von „Bitte zu entschuldigen“? Ich muss, pardon, gestehen: Ich weiß es nicht.

dietmar.krug@diepresse.com diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2010)

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