Die Ich-Pleite

Die Radfahrer heutzutage

(c) Carolina Frank
  • Drucken

Früher hat man sich als Radfahrerin vor den Autofahrern gefürchtet. Heute hab ich nicht mehr Angst vor den Autofahrern, ich hab Angst um sie.

Die Angst ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Früher hat man sich als Radfahrerin vor den Autofahrern gefürchtet. Es gab den gemeinen Radlhasser, es gab den blinden Ignoranten, es gab den aggressionsgestörten PS-Proll, es gab den gerichtlich von der Familie, aber leider nicht auch von der Straße weggewiesenen Familienvater, es gab den Viagra-Junkie, es gab den Spiegeltrinker, es gab den Lustmörder, es gab den SMS-Schreiber, und es gab früher den Fahrer mit Hut und später den Fahrer mit Baseballkappe. So war die Jagdsituation in der alten Zeit.

Heute gibt es die anderen Radfahrer. Manche von ihnen pflügen durch den Radweg, als gäbe es kein Morgen. Sie scheinen all die erwähnten Autofahrerpsychen in sich zu vereinen. Nur besoffen sind sie nicht. Der viel bessere Blutrausch ist es, der sie durch die Straßen treibt. Sie haben keine Freunde, sie haben keine Frauen, sie haben nur ihr Bike. Ihr Ziel ist es, andere Radfahrer zur Strecke zu bringen. Heute hat man schon Mitleid mit den Autofahrern, die mit angstgeweiteten Augen an ihren Rückspiegeln kleben und sich nicht abzubiegen getrauen, weil jederzeit ein bewaffneter Kampfradler, mit dicken Over-Ear-Kopfhörern von der Sterblichkeit abgeschirmt, aus dem Nichts kommen und rechts vorbeipfeifen kann. Soweit ist es gekommen. Ich hab nicht mehr Angst vor den Autofahrern, ich hab Angst um sie.

Ich winke sie großmütig über die Kreuzung. Ich schenke ihnen ein Lächeln, wenigstens sind sie keine durchgeknallten Rad-Desperados. Dabei ist der durchschnittliche Radfahrer fast so harmlos wie der gute alte Onkel Autofahrer. Aber um mich auch der Angst vor E-Bike-Rentnern und E-Scooter-Kindern zu stellen, brauche ich noch ein paar Therapiestunden.

(Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 02.10.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.