Europa vertiefen

Die Bruchlinien unter dem Fundament der EU

(c) MGO (Marin Goleminov)
  • Drucken

Nord gegen Süd, Ost gegen West. Krisen wie die Coronapandemie offenbaren die Konsequenzen alter Verwerfungen in der EU. Manche von ihnen lassen sich mit Instrumenten des Binnenmarkts bekämpfen – für andere braucht Europa neue Werkzeuge.

Was hat die jüngste europäische Geschichte mit einer antiken Tragödie zu tun? Erstaunlich viel, wie man nach der Lektüre des neuen, soeben erschienenen Buchs von Geert Mak feststellen kann. In „Große Erwartungen“ nimmt der niederländische Essayist seine Leser mit auf eine Zeitreise durch die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Die vielen Krisen, die Europa seit der Jahrtausendwende heimgesucht haben, wirken darin überraschend und unausweichlich zugleich – man sieht, dass eine große Welle auf einen zurollt, und unternimmt trotzdem keine Anstalten, ihr aus dem Weg zu gehen. Diese retrospektive, tragische Unausweichlichkeit fällt bei Maks literarischem Rückblick auf die Ereignisse der vergangenen Jahre besonders stark auf.

Was europäische Schicksale anbelangt, hat der Niederländer, Jahrgang 1946, große Erfahrung. In seinem ersten Buch zu diesem Thema, „In Europa“, beschrieb er das Einigungswerk bis 1999. Sein neues Werk fängt dort an, wo er damals aufgehört hat. Dem Jahr 1999 fällt dabei die Rolle des Bindeglieds zu, eines Scheitelpunkts des posthistorischen Optimismus: Ging es bis dahin (grosso modo) bergauf, ist man seither damit beschäftigt, den Niedergang zu managen – oder wenigstens noch eine Weile hinauszuzögern. Rückblickend betrachtet wurden die Erwartungen des Jahres 1999 enttäuscht: Weder hat sich das ökonomische System als stabil herausgestellt, noch wurden Machtpolitik und Nationalismen überwunden – von einer zufriedenstellenden Antwort auf den Klimawandel ganz zu schweigen.

Stattdessen gab es islamistischen Terror, Wirtschaftskrisen, Massenmigration, das Abrutschen mancher EU-Mitgliedstaaten in Semi-Autoritarismus und den ersten Austritt eines EU-Mitglieds seit dem Beginn des Integrationsprozesses, Drohgebärden im benachbarten Ausland und seit 2017 im Weißen Haus – und, last but not least, Covid-19. Die Blitzeinschläge kommen immer näher.

»Hohe Schulden, prekäre Jobs, Abhängigkeit von China, zu wenig Schutzmasken – das Virus hat Schwachstellen entblößt.«

Was die Lektüre von „Große Erwartungen“ – und hoffentlich auch jene der nachfolgenden Seiten – klarmacht: Es handelt sich dabei nicht um Blitze aus heiterem Himmel, sondern um Konsequenzen alter Verwerfungen, die nun, da die Großwetterlage nicht mehr so günstig ist, umso deutlicher ans Tageslicht kommen. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“ – der Autor William Faulkner trifft mit diesem Satz den Nagel auf den Kopf. Was wir als neue Krise wahrnehmen, ist oft nichts anderes als die lange Hand des Zufalls, die von draußen in unser behagliches Heim greift und den Vorhang wegreißt, hinter dem sich alter Unrat verbirgt.

Die Pandemie ist das jüngste Beispiel: Viele der Probleme, mit denen Europa zu kämpfen hat, wurden nicht durch Corona verursacht, sondern tragen im Gegenteil dazu bei, dass die Krise derart dramatische Ausmaße angenommen hat: hohe Staatsverschuldung, die Gegenmaßnahmen erschwert; nicht ausreichend vorhandene Kapazitäten im Gesundheitsbereich; prekäre Arbeitsverhältnisse, die dazu verleiten, sich nicht an die Quarantänevorschriften zu halten; schlecht belüftete Großraumbüros; zu eng gespannte Lieferketten, die keinen Spielraum für Engpässe vorsehen; Abhängigkeiten von monopolistischen Lieferanten in China – all das wurde nicht durch das Virus verursacht, sondern schonungslos sichtbar gemacht. Corona ist ein Offenbarungseid. Und der Anblick ist nicht schön.

Insofern ist es höchst an der Zeit, sich zu vergegenwärtigen, dass unter den Fundamenten des Hauses EU tektonische Bruchlinien verlaufen. Sie haben mit Geschichte und Geografie zu tun, mit Wirtschaft und der geostrategischen Ausrichtung, mit Wohlstand und Armut, mit Wachstum und Abschwung. Manche Frontverläufe sind besser sichtbar – beispielsweise jener zwischen den EU-Staaten, die für Flüchtlinge und Migranten das Tor nach Europa sind, und den weiter entfernten Unionsmitgliedern, die mit den Neuankömmlingen nichts zu tun haben möchten. Andere Bruchlinien wiederum verlaufen so tief im Untergrund, dass sie nur indirekt in Erscheinung treten: Die illiberale Wende in Teilen Mittelosteuropas hat nicht nur mit den politischen Handwerkskünsten der dortigen Nationalpopulisten zu tun, sondern auch mit einem sich im Hintergrund vollziehenden Exodus junger, liberaler und gebildeter Bevölkerungsschichten. Das alte US-Motto „Go West, young man!“ gilt in der Zwischenzeit nicht mehr für die Neue, sondern für die Alte Welt.

Dass es zu Verwerfungen kommen muss, wenn – wie etwa in Rumänien – die Hälfte aller Ärzte zwischen 2009 und 2015 das Land verlässt, liegt auf der Hand. Die weniger mobilen Zurückgebliebenen schotten sich ab und reagieren umso empfindlicher auf Zurufe aus dem Westen Europas, man möge Neuankömmlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten ins Land lassen – jenem Westeuropa übrigens, das vom Know-how der emigrierten Landsleute profitiert.

Sind wir Europäer dazu verdammt, wie die Hauptfiguren altgriechischer Tragödien ins Unglück zu stürzen? ου γαρ ουν – ganz und gar nicht. Die EU ist zwar in Bedrängnis, doch sie schlägt sich wacker – wenn auch nicht an allen Fronten gleich gut. Wovon hängt es also ab, ob die Union mit einer Bruchlinie gut umgehen kann? Vereinfacht ausgedrückt davon, ob es ums Geld geht oder nicht. Jene Krisen, die sich mit den Werkzeugen des gemeinsamen Binnenmarkts bzw. mit Finanzspritzen bekämpfen ließen, hat die EU – einmal besser, einmal weniger gut – in den Griff bekommen: Die Eurokrise hat zwar Narben hinterlassen, doch sie ist dank der Einrichtung des mit 750 Mrd. Euro dotierten Schutzschirms ESM nicht mehr akut bedrohlich. Auch der vereinbarte Post-Corona-Wiederaufbaufonds dürfte helfen, die wirtschaftliche Lage zu stabilieren – sofern er nicht aus anderen Gründen torpediert wird.

Wegschauen funktioniert nicht mehr

Denn mit anderen Themen kommt Brüssel immer noch schwer zurande. Wenn es um das Management der Migration oder um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geht, helfen Mechanismen des Binnenmarkts nicht weiter. Die EU und ihre 27 Mitglieder werden sich über kurz oder lang andere Werkzeuge zulegen müssen.

Was mit Sicherheit nicht helfen wird, ist der Mantel des Schweigens. Spanien ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel: Nach dem Tod von Francisco Franco 1975 hatte sich die spanische Gesellschaft darauf verständigt, die Verbrechen seiner Diktatur nicht aufzuarbeiten, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Dieser „Pakt des Schweigens“ hielt erstaunlich lang – doch mittlerweile ist er an seine Grenzen gelangt. Sowohl der jüngste Konflikt zwischen Katalonien und dem spanischen Zentralstaat als auch der Aufstieg der extrem rechten Partei Vox haben zu einem Teil mit der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit zu tun.

Jeder schlafende Hund wacht irgendwann von selbst auf. Die EU sollte die Bruchlinien unter ihrem Fundament nicht ignorieren, sondern die Risse kitten. Die nächste Krise kommt bestimmt.

Dieses Dossier wurde von der „Presse”-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet.

Es ist mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten sowie des Bundeskanzleramts möglich geworden und daher auch frei zugänglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Schuldner gegen Gläubiger

Die „Frugalen Vier“ gegen den Süden – und Berlin vermittelt

Im vergangenen Jahrzehnt wandelte sich das wichtigste Gläubigerland der EU, Deutschland, vom strengen Sparmeister zum Referent der Schuldner.
Reich gegen Arm

Nettozahler versus Nettoempfänger

Fast 40 Milliarden Euro werden jährlich in ärmere EU-Länder transferiert. Ein Spannungsfeld um wirtschaftlichen Erfolg.
USA/Russland

Transatlantiker und „Putin-Versteher“

Manche EU-Mitglieder suchen die Nähe zu Russland, andere orientieren sich an Washington.
Mittelmeer-Anrainer

Migration: Wird Europa zur Festung?

Das Migrationsthema spaltet die EU. Knackpunkte sind die Verteilung der Flüchtlinge, Asylverfahren und der Schutz der Außengrenzen.
Auswanderung gegen Einwanderung

Massenexodus in den reichen Westen

Die armen Länder Südosteuropas können ihre jungen, gut ausgebildeten Menschen nicht halten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.