Schuldner gegen Gläubiger

Die „Frugalen Vier“ gegen den Süden – und Berlin vermittelt

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Im vergangenen Jahrzehnt wandelte sich das wichtigste Gläubigerland der EU, Deutschland, vom strengen Sparmeister zum Referent der Schuldner.

Wien. Wenn es um Einfluss in der Europäischen Union geht, um Geltung bei den Brüsseler Institutionen und in der Gruppe der Mitglieder, dann spielen die Größe eines Landes und die Fähigkeit seiner Regierungsmitglieder, sich Verbündete zu suchen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die tatsächliche Machtverteilung aber bestimmt nur ein Faktor allein: das Geld. „Wer zahlt, schafft an“ heißt es im Volksmund, und das gilt auch für das europäische Staatenbündnis, das bekanntermaßen 27 Mitglieder mit zum Teil unterschiedlichster ökonomischer Verfasstheit zählt.

Dieser Umstand ist offensichtlich und heikel zugleich, denn es kann in niemandes Interesse sein, wenn Länder mit einer hohen Schuldenquote sich in der Gemeinschaft benachteiligt fühlen und immer den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen. Zugleich beherrschen nicht alle Staats- und Regierungschefs das Fingerspitzengefühl, diesem Umstand Rechnung zu tragen, und brüsten sich bei Verhandlungen nicht selten mit ihrer Rolle als Vertreter eines „reichen“ – und somit einflussreichen – Mitglieds.

Die Frontlinien zwischen Schuldnern und Gläubigern verlaufen auf der europäischen Landkarte vor allem horizontal: Auf der einen Seite stehen Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, auf der anderen Österreich, die Niederlande, Schweden, Finnland, Dänemark und freilich – im Zentrum von Geld- und Machtpolitik in der EU – Deutschland. Die größte Volkswirtschaft Europas hat während des vergangenen Krisenjahrzehnts eine uneinholbare Führungsrolle in der EU eingenommen und wurde de facto zur Hegemonialmacht, ohne es selbst zu wollen. Diesem Umstand liegt nicht nur der wirtschaftliche Faktor, sondern auch das Verhandlungsgeschick von Angela Merkel zugrunde, die das Land seit nunmehr 15 Jahren defensiv, aber frei von Skandalen regiert.

Von der Buhfrau zur Vermittlerin

Sie ist damit die mit Abstand Dienstälteste unter den EU-Staats- und Regierungschefs und hat es im Laufe des vergangenen Jahrzehnts dank zunehmendem Gespür für die Sorgen und Nöte der Schuldnerländer geschafft, die Verwandlung von der Buhfrau während der Eurokrise zur Vermittlerin zwischen Nord und Süd in der Coronakrise zu vollziehen.
Doch der Reihe nach. Als die Finanzkrise 2009 von den USA nach Europa herüberschwappt, reißt dies einen tiefen Graben zwischen den ökonomisch besser gestellten Norden und den Süden der EU. Jene Länder, die bereits zuvor mit einer hohen Staatsverschuldung zu kämpfen hatten, geraten nun endgültig ins Straucheln – allen voran Griechenland, das sich an den Kapitalmärkten nicht mehr selbst mit frischem Geld versorgen kann. Nur mit der Hilfe seiner europäischen Partner, bestehend aus Euroländern, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) kann es den drohenden Bankrott abwenden – zu einem hohen Preis: Denn an die Hilfsgelder sind Sparauflagen gekoppelt, die der Bevölkerung drastische Einschnitte abverlangen. Demonstrationen in Athen arten in Straßenschlachten aus, und der Zorn der griechischen Bürger konzentriert sich auf eine Person: Angela Merkel. Schließlich ist es ihr Finanzminister, Wolfgang Schäuble, der – unter Androhung des Rauswurfs von Griechenland aus der Eurozone – die Einhaltung der Auflagen mit strenger Miene einmahnt.

EU-Gipfel beschließt ESM

Nach und nach müssen auch andere Länder der Eurozone um EU-Hilfspakete ansuchen: Im Juli 2010 Italien, das zu diesem Zeitpunkt bereits eine Staatsverschuldung von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufweist. Es folgen Irland, Portugal und Zypern. Um einen dauerhaften Mechanismus für Länder in Not zu schaffen, wird bei einem EU-Gipfel im Dezember 2010 der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ins Leben gerufen – ein permanenter Rettungsschirm für angeschlagene Eurostaaten: ESM-Mitglieder können Bürgschaften gegen Sanierungsauflagen gewähren, sobald ein Land in finanzieller Schieflage steckt.

Die Rufe nach einer „umfassenderen Lösung“ der Staatsschuldenkrise werden dennoch lauter. So nimmt die Debatte über die vonseiten der Schuldnerländer geforderten „Eurobonds“ – also gemeinsamen Staatsanleihen der EU – zu dieser Zeit ihren Anfang. Wieder stehen die Interessen der Schuldner gegen jene der Gläubiger. Besonders die Regierung in Berlin will sich jedoch nicht zu einem so weitreichenden Schritt durchringen. Dass Deutschland für die über Jahrzehnte durch Misswirtschaft aufgebauten Schulden anderer EU-Länder haften soll, wäre der Bevölkerung nur schwer vermittelbar. Das weiß Merkel.

Einige Zeit ruht die Debatte – doch als im März 2020 die Coronakrise über Europa hereinbricht und den Mitgliedstaaten völlig unverschuldet die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg beschert, kehren die alten Forderungen zurück an den Brüsseler Verhandlungstisch. Es muss schnell gehen. Wie schon während der Staatsschuldenkrise ist der Süden besonders hart betroffen: Italien ist das EU-weit erste Land, in dem sich der Virus rasant ausbreitet und einen Lockdown erforderlich macht. Das öffentliche Leben steht still, Unternehmen stellen ihre Produktion ein, Restaurants müssen schließen, der Tourismus liegt darnieder. Auch Frankreich und Spanien trifft es hart.

Der französische Präsident, Emmanuel Macron, dirigiert nun die angeschlagene Gruppe der südlichen EU-Mitglieder – und weiß auch Merkel auf seiner Seite. Gemeinsam mit der deutschen Kanzlerin handelt er ein Corona-Hilfspaket im Umfang von 750 Milliarden Euro aus, das den übrigen Mitgliedstaaten – in von der EU-Kommission leicht veränderter Form – beim Europäischen Rat als Verhandlungsbasis vorgelegt wird. Diesmal sind es die „Frugalen Vier“, Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande, die das Papier ablehnen und als strenge Sparmeister gegenüber den Schuldnern auftreten. Als Gruppe kleinerer Mitgliedstaaten wollen sie sich von den Großmächten Deutschland und Frankreich nicht überrumpeln und ein fertig ausverhandeltes Hilfspaket vorsetzen lassen. Statt der in dem Papier vorgesehenen 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen fordern sie einen höheren Anteil an Krediten. Schließlich einigen sich die Mitgliedstaaten auf ein Verhältnis von 390 (Zuschüsse) zu 360 (Kredite) Milliarden Euro.

Für Österreichs Kanzler, Sebastian Kurz, stellt das Hilfspaket eine absolute Ausnahme dar: Er werde verhindern, dass dieses langfristig zu einer „Union der Schulden“ führt, wie er selbst sagt. „Dies hätte fatale Folgen, denn es würde ein Nachlassen der Verantwortung verursachen und den Drang zu strukturellen Reformen bremsen“, so Kurz, der sich in seiner Position durch seine Mitstreiter in Schweden, Dänemark und den Niederlanden gestärkt sieht.

Auch dass die Union im vergangenen März, auf dem bisherigen Höhepunkt der Coronakrise, die Verpflichtung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt (dieser besagt, dass die Haushaltsdefizite drei Prozent der Wirtschaftsleistung nicht übersteigen dürfen und die Gesamtverschuldung höchstens 60 Prozent des BIP sein darf) bis auf Weiteres ausgesetzt hat, dürfte unter den Mitgliedstaaten noch zu Streitigkeiten führen: Diese in der Geschichte einmalige Maßnahme soll es den Regierungen ermöglichen, massive Konjunktur- und Hilfsprogramme für die Wirtschaft aufzulegen, ohne Sanktionen aus Brüssel fürchten zu müssen. Paris hat die Rückkehr zu den alten Schuldenregeln als „Anwalt des Südens“ ausgeschossen. Nach der Krise würden die EU-Staaten eine Verschuldung haben, „die ganz anders sein wird als in der Welt, die wir noch vor einigen Jahren in ganz Europa erlebt haben“, warnte der französische Europa-Staatssekretär, Clément Beaune.

Was die Gläubigerländer – und insbesondere die „Frugalen Vier“ dazu sagen, steht jedoch auf einem anderen Blatt Papier. Gut möglich, dass sie – sobald die Folgen der Coronakrise abebben – einfordern, den Pakt wieder zum Leben zu erwecken, um finanzpolitische Stabilität in der Union zu gewährleisten.

Weichere Linie in Berlin

Deutschland als das mit Abstand wichtigste Gläubigerland der EU dagegen hat eine weichere Linie eingeschlagen – und dürfte diesen Pfad so schnell nicht wieder verlassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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