Autokraten gegen Demokraten

Der giftige Reiz der „illiberalen Demokratie“

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Vor sechs Jahren formulierte Ungarns Regierungschef, Viktor Orbán, ein autoritäres Gegenmodell zur Union der Rechte und Freiheiten, das zahlreiche Nachahmer fand.

Brüssel. Am 26. Juli 2014, anlässlich der jährlichen Sommeruniversität für seine Anhänger, warf Viktor Orbán einen Begriff in die politische Manege, an dem sich die Europäische Union mehr als sechs Jahre später noch immer mit wachsendem Unwohlsein reibt. „Die ungarische Nation ist nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert werden muss, gestärkt und entwickelt, und in diesem Sinne ist der neue Staat, den wir errichten, ein illiberaler Staat, ein nicht liberaler Staat“, sprach der Ministerpräsident im siebenbürgischen Kurort B?ile Tuşnad (den er natürlich lieber bei seinem ungarischen Namen Tusnádfürdö nennt). Dieser neue Staat „verweigere keine Grundwerte des Liberalismus wie Freiheit und so weiter. Aber er macht diese Ideologie nicht zum Kernelement einer staatlichen Organisation, sondern wendet stattdessen einen spezifischen, nationalen, besonderen Zugang an.“

Schon damals machte er klar, dass die von ihm beschworene Freiheit nicht für alle gelten solle – allen voran nicht für jene, die den Führungsanspruch seiner Partei Fidesz infrage stellen: die Vertreter der Zivilgesellschaft. Sie seien durchwegs „von Ausländern bezahlte politische Aktivisten“, die versuchten, „ausländische Ziele zu befördern“. Orbán betonte zugleich, dass sein neuer Staat „demokratisch“ sein solle: „Wir müssen festhalten, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Nur weil etwas nicht liberal ist, kann es noch immer eine Demokratie sein.“

Orbáns Idee einer „illiberalen Demokratie“ entfaltete rasch eine erstaunliche Anziehungskraft – sowohl in seiner unmittelbaren mittelosteuropäischen Nachbarschaft, als auch im Westen der Union. Im Jahr darauf gewann die autoritäre polnische Partei PiS sowohl die Mehrheit im Parlament als auch das Amt des Präsidenten. Die Flüchtlingskrise desselben Jahres ließ allerorten Parteien und Politiker erstarken, die Orbáns Vorstellung von einem nicht liberalen Staatswesen übernahmen: „Beim Illiberalismus geht es darum, das Gemeinwohl an die erste Stelle zu setzen. Der Illiberale ist jener, der die Grenzen schützt, der die Kultur der Nation schützt.“ Das zog und zieht politisch: Der Einzug der Alternative für Deutschland in deutsche Landesparlamente und den Bundestag lässt sich ebenso darauf zurückführen, dass Orbán eine gewisse Grundstimmung in Teilen der Gesellschaft in eine politische Ideologie geschmiedet hatte, wie es das merkliche Rücken nach Rechtsaußen bisheriger Zentrumsparteien zur Folge hatte – auch in Staaten wie Italien, Schweden oder Frankreich, die sich vorbildlicher Demokratien rühmen.

Orbán, der politische Blitzableiter

Auch jene Parteien und Regierungen, die rhetorisch nicht so in vorderster Linie stehen wie Orbán, in der Sache jedoch sich ihre Staaten ebenso zu unterwerfen versuchen, profitieren vom Getöse aus Budapest. Denn solang sich die Anhänger und Verteidiger der Union der Rechte und Freiheiten an Orbán abarbeiten, mit Vertragsverletzungsverfahren, Artikel-7-Verfahren wegen der systemischen Gefährdung der Grundwerte der Union und Entschließungen im Europaparlament, ist ihre Aufmerksamkeit monopolisiert. Vergleichsweise leise ist die europäische Kritik an Tschechiens Regierungschef, Andrej Babiš, der sich als Milliardär ungeniert an den Brüsseler Fördertöpfen bedient, zugleich aber ebenso wenig mit Pluralismus, Bürgergesellschaft und politischer Kontrolle der Mächtigen am Hut hat wie Orbán. Bulgariens starker Mann, Bojko Borissow, hielt sein von Korruptionsskandalen und Machtmissbrauch durchzogenes Regime jahrelang vor allzu genauen Blicken aus Brüssel verborgen, indem er auf laute Töne verzichtete. Erst seit diesem Sommer sind die zivilgesellschaftlichen Proteste gegen seine Art, das Land im Griff zu behalten, nicht mehr unter dem Deckel zu halten. Politischen Willen, ihn zur Ordnung zu rufen, gibt es jedoch weder in Brüssel noch Berlin oder Paris. Dasselbe gilt für andere autoritär geneigte Regierungen, in der Slowakei etwa.

Orbán selbst sitzt weiterhin ziemlich fest im Sattel – und hält an seiner Weltsicht fest: „Die Essenz illiberaler Demokratie“, sprach er im Sommer 2019 erneut im Rahmen seiner Sommeruniversität, „ist der Schutz christlicher Freiheit.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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