Europas Himmelsrichtungen

Der falsche Kompass in unseren Köpfen

Ein Holzschnitt von 1550. Auch was bei Nord/Süd/Ost/West mitschwingt, gerät oft holzschnittartig.
Ein Holzschnitt von 1550. Auch was bei Nord/Süd/Ost/West mitschwingt, gerät oft holzschnittartig.(c) Picturedesk
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Einst war der Süden reich und der Norden arm. Warum hat sich das gedreht? Haben die Westler den Osten erfunden? Und wieso bekennt sich kein Osteuropäer zu seiner Region? Der Versuch einer Kalibrierung.

Im Norden kann ein zivilisierter Südländer nicht leben. „Wer würde Kleinasien, Afrika oder Italien verlassen, um nach Germanien zu ziehen – mit seinen hässlichen Landschaften, dem rauen Klima, der trostlosen Szenerie?“, fragte sich Tacitus. Gewalttätig und faul sind die dortigen Barbaren, stellte der römische Historiker fest. Ihre Leiber sind „nur zum Angriff tüchtig“, sie scheuen „Strapazen und Arbeit“, und wenn sie nicht in den Krieg ziehen, verbringen sie die meiste Zeit mit Nichtstun. Knapp zwei Jahrtausende später lancierte die germanische „Bild“-Zeitung, unterstützt von seriösen Ökonomen derselben Provenienz, eine Kampagne gegen die arbeitsscheuen Griechen: Wie alle finanziell maroden Südländer mit ihren unterentwickelten Ökonomien wollten sie den fleißigen, solide wirtschaftenden Nordeuropäern die wohlverdienten Euros aus der Tasche ziehen. Aus Nord wird Süd, aus Süd wird Nord: Der Kompass, nach dem sich unsere mentale Landkarte ausrichtet, scheint im Laufe der Geschichte Europas seine Pole gewechselt zu haben.

Wie ist es dazu gekommen? Das ökonomische Machtzentrum verlagerte sich vom Süden in den Norden. Aus vielen Gründen, auch solchen, an die man nicht gleich denkt. So gruben sich etwa die Anrainer der Mittelmeerstaaten durch das Abholzen ihrer Wälder buchstäblich das Wasser ab – und damit die Quelle ihres Wohlstands in Zeiten, in denen dieser großteils aus der Landwirtschaft kam. Vor allem aber zog der Klerus die Fäden: Noch im späten Mittelalter lagen die ökonomischen Impulsgeber Europas im Süden, in Handelsstädten wie Florenz, Venedig, Barcelona und Lissabon. Doch das änderte sich mit Reformation und Gegenreformation.

Die Lehren von Luther und Calvin stärkten das Individuum, das sich mit seinem Gewissen allein vor Gott zu verantworten hatte. Im Schlepptau der spirituellen Befreiung folgten irdische Freiheiten: Wissenschaft und Bankwesen gediehen, Eigentumsrechte wurden gesetzlich garantiert und Unternehmer begannen, ihre Gewinne zu reinvestieren. Nahe gelegene katholische Regionen, zumal im kleinteiligen Deutschland, mussten unter Konkurrenzdruck nachziehen.

Im rein katholischen Süden Europas aber sorgte die römische Kirche samt ihren Inquisitoren dafür, dass sich die feudalen Strukturen verhärteten. Erfolge durch Handwerk, Handel und Geldverleih galten als suspekt. Und Reichtum war nur dann gottgefällig, wenn er auf ererbtem oder erobertem Landbesitz beruhte – also auf Ausbeutung statt auf produktivem Wirtschaften. Wie lang diese Weichenstellung fortwirkt, zeigen die BIP-pro-Kopf-Vergleiche von Eurostat: Der Norden ist reich, der Süden arm.

Erst halbe Tiere, dann Musterschüler

Aber es geht ja nicht nur um Geld. Ob Bildung, Geschlechtergerechtigkeit, seltene Fettleibigkeit oder schlicht Glück: In einer für uns fast kränkenden Konsequenz weisen Rankings die skandinavischen Staaten als europäische, ja globale Musterschüler aus. Also just den äußersten Norden, der Tacitus besonders suspekt war. Dort sollten die Fennen hausen, primitiv vor sich hin vegetierend, Gras fressend und unter Zweigen hausend. Benachbarte Stämme galten als halbe Tiere. Der Norden hat also eine erstaunliche Karriere hingelegt.

Eine noch seltsamere Geschichte verbindet sich mit dem europäischen Gegensatzpaar Westen und Osten. Es ist viel jüngeren Datums als die Nord-Süd-Dichotomie: Ein „Osteuropa“ sucht man vergeblich in Quellen, die älter als 200 Jahre sind. Bis ins 19. Jahrhundert wurde auch Russland zum Norden des Kontinents gezählt. Der Osten, das war der islamische Orient, das ferne Asien und damit gerade nicht Europa. Doch die Aufklärer richteten den Kompass der Klischees neu aus. Die vormals nordischen Attribute – barbarisch, rückständig, abergläubisch, gewalttätig, angsteinflößend – wanderten langsam in den europäischen Osten.

Er lieferte so den Kontrast zum fortschrittlichen, vernunftbetonten Westen, dessen Zentrum in den Salons von Paris und London liegen sollte. Hatten nicht schon die Russland-Reisenden früherer Jahrhunderte den „halb-asiatischen“ Charakter dieses Landes betont? Waren nicht die Horden der Hunnen aus dieser Richtung gekommen? Da hielten es westliche Machtmenschen für angeraten, den potenziellen Gegner mit seinen veralteten Waffen gleich prophylaktisch zu erobern. Hatte Napoleon noch (vorgeblich?) die Absicht, die Russen zu zivilisieren, wollte Hitler sie ermorden – was nachträglich Verständnis für die Ausfälle des Tacitus gegen die „barbarischen Germanen“ weckt.

Aber wo genau fängt dieses Osteuropa an? Hinter dem Eisernen Vorhang, lautete die schlichte Antwort im Kalten Krieg. Danach sah der Politologe Samuel Huntington anstelle des Stacheldrahts einen „samtenen Vorhang der Kultur“. Aber bei all den negativen Konnotationen verwundert es nicht, dass sich kaum ein Bewohner der dahinter liegenden Region als Osteuropäer versteht. Polen und Kroaten erinnern an ihre historische Rolle als Bollwerke des katholischen Christentums gegen die Osmanen. Auch Tschechen, Slowaken und Ungarn pochen darauf, dass sie „klar zur westlichen Sphäre der europäischen Zivilisation gehören“. So grenzte sie Václav Havel vom „traditionell unruhigen“ Balkan und dem „eurasischen Raum“ ab, wo Demokratie und Marktwirtschaft angeblich kaum Fortschritte machen.

Schmuddelkinder im Hinterhof

Das wiederum wollen sich Ukrainer und Balten nicht von den selbst ernannten „Ostmitteleuropäern“ sagen lassen – und verschieben die Demarkationslinie weiter gen Russland. Dort gibt es bekanntlich seit Peter dem Großen eine geistige Elite, die sich die Verwestlichung ihres Landes auf die Fahnen schreibt. So entsteht die bizarre mentale Geografie eines Kontinents, der einen Westen und eine Mitte hat, aber keinen Osten – oder zumindest keinen, zu dem sich irgendjemand aus freien Stücken bekennt.

Dabei geht es immer noch schlimmer: Die Himmelsrichtung mit dem übelsten Image haben die Menschen im „Hinterhof Europas“ abgekriegt: dem Südosten. Im 19. Jahrhunderts bekam der Balkan sein semantisches Fett ab: als unzivilisierte, chaotische, von Fehden zerrissene Gegend, in der Fanatismus und Bestechlichkeit gedeihen. Für Bismarck war sie von „Schafsdieben“ bewohnt, für k. u. k. Außenminister Kálnoky von „Balkanproleten“. Autoren wie Karl May und Agatha Christie verfestigten das Bild.

Durch den Jugoslawien-Krieg wurde es um die Facette der Gewaltbereitschaft ergänzt. Die Südosteuropäer seien unfähig zur Demokratie, ergänzte der belgische Politiker Willy Claes: Der Kommunismus habe in der „dort herrschenden orientalischen Weltanschauung“ zu „tiefe Wurzeln geschlagen“. Als Nato-Generalsekretär stolperte Claes übrigens schon nach einem Jahr über eine Korruptionsaffäre. Am besten ist wohl, wir werfen unseren geerbten mentalen Kompass zum toxischen Sondermüll der Geschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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