Geschichte

Wie aus alten Feinden neue Freunde wurden

Die EU wurde einst als Friedensprojekt gegründet, um die Erzfeinde des Zweiten Weltkriegs zusammenzuführen. Mittlerweile hat sie durch Öffnung der Grenzen und den gemeinsamen Binnenmarkt noch weit mehr historische Bruchlinien aufgelöst.

Wien. „Aus den Trümmern von zwei schrecklichen Weltkriegen sind Frieden und Freiheit gewachsen, aus Erbfeinden sind gute Freunde und untrennbare Partner geworden.“ Der verstorbene ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle war einer von vielen europäischen Politikern, die den Friedensnobelpreis für die EU im Jahr 2012 als verdient erachtet haben. Auch wenn der eigentliche Verdienst dafür bei den Gründungsvätern der Gemeinschaft, Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer, zu suchen ist, hat die Europäische Union tatsächlich zahlreiche historische Konflikte auf diesem Kontinent aufgelöst.

Europa war über Jahrhunderte ein Schlachtfeld, auf dem Feindschaften begründet, Ungerechtigkeiten besiegelt wurden. Die Nachwirkungen hielten über Generationen. Hier einige Beispiele ehemaliger Feinde, die durch die Mechanismen der EU ihre Spannungen auflösen konnten:

Frankreich – Deutschland

Die beiden Erzfeinde des Ersten und Zweiten Weltkriegs hätten ohne die Gründung einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl – der Vorgängerorganisation der heutigen EU – wohl kaum zusammengefunden. Durch die gemeinsame Verwaltung der wichtigsten Rohstoffe konnte nicht nur ein weiterer Krieg ausgeschlossen, sondern auch ein gegenseitiges Vertrauen entwickelt werden, das durch den Eintritt beider Länder in eine Wirtschaftsgemeinschaft mit den vier weiteren Gründungsstaaten, den Benelux-Staaten und Italien, verfestigt wurde. Heute halten beide Regierungen gemeinsame Kabinettsitzungen ab, kooperieren eng in Sicherheitsfragen und stimmen ihre Politik in der EU vor jedem Gipfeltreffen eng ab.

Österreich – Italien

Lang hat die Grenzziehung zwischen beiden Ländern für Kontroversen, sogar für gewaltsame Anschläge gesorgt. Heute ist der Südtirol-Konflikt, der mit der Abtrennung des Gebiets von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg begann, befriedet. Der EU-Beitritt Österreichs 1995 und die Öffnung der gemeinsamen Grenze 1998 durch Teilnahme beider Länder am Schengenabkommen hat Tirol de facto wiedervereint. Das Zusammenleben der Bevölkerung, die Entwicklung von grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen wurde zur Normalität, die Trennung nur noch durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Staatsverwaltungen erlebbar.

Nato – Warschauer-Pakt

Sie waren in Europa über ein halbes Jahrhundert erbitterte Feinde – die unter Einfluss der Sowjetunion stehenden Ostblockländer und die europäischen US-Partner. Die Länder des Warschauer Pakts und der Nato arbeiteten nicht nur in Sicherheitsfragen gegeneinander, sie betrieben Spionage, gegenseitige Propaganda und sorgten dafür, dass in ihrer jeweiligen Bevölkerung das Feindbild gepflegt wurde. Erst die EU-Osterweiterung 2004 löste diese Spannung auf. Stacheldrahtzäune, Wachtürme und Selbstschussanlagen wurden zwischen den beiden Teilen Europas abgebaut. Die Reisefreiheit und wirtschaftliche Kooperation haben dazu beigetragen, dass sich die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungen verringerten.

Irland – Großbritannien

Als Irland 1973 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten ist, wurde dies im Land als Befreiung vom traditionellen Gegner Großbritannien empfunden. Denn damit konnte die 1949 vom Königreich unabhängig geworden Republik endlich ihre wirtschaftliche Abhängigkeit reduzieren. Irland trat viele Jahre später aus einer ähnlichen Motivation auch der Europäischen Währungsunion bei. Die EU-Mitgliedschaft beider Länder war Grundlage für das 1998 abgeschlossene Karfreitagsabkommen, das den Bürgerkrieg in Nordirland, an dem beide Länder gelitten hatten, beendete. Ein Kernpunkt der Vereinbarung ist die Öffnung der Grenze zwischen beiden Teilen Irlands, die nun durch den Brexit und das Beharren der britischen Regierung auf einen unkontrollierten Warenverkehr zwischen Nordirland und der britischen Insel wieder infrage gestellt wird.

Deutschland – Polen

Zwei Jahrzehnte lang gab es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen diplomatischen Kontakt zwischen Deutschland und Polen. Zu tief waren die Wunden der Nazi-Herrschaft. Erst Bundeskanzler Willy Brandt gelang 1970 eine Normalisierung. Das Bemühen der deutschen Regierung um eine Nato- und EU-Integration des Landes löste die Feindschaft großteils auf. Der Beitritt Polens 2004 beendete auch die Debatte um die Oder-Neiße-Grenze, die von vielen Deutschen nicht akzeptiert worden war.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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