Interview

Ivan Krastev: „Das Veto ist keine Atombombe mehr“

Ivan Krastev: „In Deutschland ist Machtausübung nach wie vor ein schmutziges Wort.“
Ivan Krastev: „In Deutschland ist Machtausübung nach wie vor ein schmutziges Wort.“(c) Daniel Novotny
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Politologe Ivan Krastev sieht in der EU eine wachsende Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Entscheidungen zu blockieren. Je länger die Coronakrise dauern werde, desto größer sei die Gefahr, dass schwelende Konflikte offen ausbrechen.

Die Presse: Eurokrise, Flüchtlingskrise, Krise der Rechtsstaatlichkeit – die Europäische Union wird von zahlreichen Konflikten geplagt. Doch die allermeisten von ihnen sind nicht neu. Warum kommen sie uns gerade jetzt so bedrohlich vor?

Ivan Krastev: Die Krisen machen vorhandene Differenzen sichtbarer. Diese Trennlinien sind nicht neu – man nehme etwa die Kluft zwischen den südlichen US-Bundesstaaten und den liberalen Küstenstaaten. Oder, hierzulande, zwischen Wien und den Bundesländern. Durch Corona werden manche Brüche vertieft, andere wiederum erscheinen uns bedrohlicher.


Das klingt zunächst einmal nicht übermäßig dramatisch . . .

. . . und es ist auch bis zu einem gewissen Grad zu erwarten. Das zweite Wahrnehmungsproblem: Wir suchen reflexartig nach Frontverläufen zwischen den Nationalstaaten. Dabei verläuft heute die dickste Trennlinie innerhalb der Staaten – nämlich zwischen den urbanen Zentren und der ländlichen Peripherie.


Gut, aber woher kommt dann dieses profunde Krisengefühl in Europa?

Es kommt daher, dass innerhalb der EU die Wahrnehmung von Krisen und die Instrumente zu ihrer Lösung allesamt auf die zwischenstaatliche Ebene abzielen. Und weil die Mitgliedstaaten das Vetorecht als politisches Instrument entdeckt haben.


Innere Probleme schwappen sozusagen nach Brüssel über.

Ja. Die Differenzen zwischen den EU-Mitgliedern sind so alt wie die EU selbst – bei den Einkommen, in Fragen der politischen Kultur und so weiter. Doch im Gegensatz zu früher scheuen die Mitgliedstaaten heute nicht mehr vor Vetos zurück.


Das erschwert die Sache erheblich.

Früher war das Veto das europapolitische Äquivalent einer Atombombe. Heute wird es als konventionelle Waffe eingesetzt.

Die Polnisch-Litauische Union ist am Vetorecht des Adels zugrunde gegangen. Für unsere Union ist das kein gutes Omen.

Es ist die derzeit größte Herausforderung für die EU. Hinzu kommt, dass die Gegensätze nicht kleiner werden, sondern größer. In den letzten 20 Jahren hat sich nach jeder Krise die Distanz zwischen Nordeuropa und Südeuropa vergrößert. Der Norden war schon immer wohlhabender als der Süden, keine Frage. Doch in den 1970er-, 1980er-Jahren war der Abstand kleiner geworden. Seit der Jahrtausendwende wächst er wieder . . .


. . . doch zugleich schließt sich die Kluft zwischen Ost- und Westeuropa.

Ja, aber nur, was die Wirtschaftsleistung anbelangt. Bei politischen Werten sieht es schon anders aus. In einigen Staaten sind Populisten an der Macht – wobei der Illiberalismus nicht auf den Osten beschränkt ist.

Da fällt einem sofort Silvio Berlusconi ein.

Alle Gesellschaften sind bis zu einem gewissen Grad politisch gespalten. Der Unterschied liegt darin, dass illiberale Parteien in Westeuropa – anders als in Teilen des Ostens – derzeit nicht an der Macht sind.


Es gibt also keine großen Unterschiede in der Weltanschauung, sondern lediglich in der Praxis der Machtausübung?

Der Blick auf die Problematik wird durch die Regierungen in Ungarn und Polen geschärft. Das ist ein wenig so wie mit Covid-19 und innerfamiliären Problemen.

Was meinen Sie damit?

Probleme, die im im Verborgenen schlummerten und vom Alltag zugedeckt waren, wurden durch das Virus offengelegt und verstärkt. Das gilt übrigens auch für das internationale Umfeld der EU. Die Union ist erstmals seit langer Zeit von Kräften umzingelt, die danach trachten, sie zu schwächen. Die Nachbarn der EU sind – aus unterschiedlichen Gründen – zur Einsicht gelangt, dass Europas Einheit nicht in ihrem Interesse ist.


Sie sprechen in erster Linie Russland an.

Nicht nur. Neu ist, dass China die Integrität des europäischen Binnenmarkts nicht mehr als vorteilhaft sieht, sondern daran arbeitet, einzelne Mitgliedstaaten aus dem europäischen Wirtschaftsgefüge herauszulösen. Aber der größte Einschnitt für die EU war der Wahlsieg von Donald Trump.

Warum?

Trump ist der erste Präsident der USA seit 1945, der nicht daran glaubt, dass ein starkes Europa im strategischen Interesse der USA liegt. Das verändert alles. Denn diese Entwicklung löst die Angst aus, dass die innereuropäischen Differenzen, über die wir vorher gesprochen haben, gezielt dazu verwendet werden, der EU zu schaden.


Die EU wurde bereits durch den Austritt Großbritanniens geschwächt.

Der Brexit hat die Balance gestört. Großbritannien ist nicht mehr da, um für Prinzipien des freien Wettbewerbs und gegen Dirigismus zu kämpfen. Kleine EU-Mitglieder müssen jetzt selbst in die Bresche springen. Insofern ist die Allianz der „Frugalen Fünf“ (Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland, Anm.) gegen bedingungslose Coronahilfen auch eine indirekte Konsequenz des EU-Austritts der Briten.

Eine logische Konsequenz wäre auch die Aufwertung Frankreichs, das nun als einziger EU-Mitgliedstaat über Atomwaffen verfügt.

Clément Beaune, Frankreichs Europaminister, hat unlängst darauf hingewiesen, dass die EU eine Antwort auf die Frage finden muss, wie sich Macht und Kooperation vereinbaren lassen. Im 19. Jahrhundert waren europäische Staaten mächtig, aber nicht kooperativ. Während des Kalten Kriegs waren sie kooperativ – und zugleich ein Protektorat der USA. Die Franzosen denken nach wie vor in Kategorien strategischer Machtausübung, während in Deutschland Macht ein schmutziges Wort ist. Hinzu kommt, dass Gefahren auf nationaler Ebene wahrgenommen werden. Italiener sehen kein Problem mit Russland, Nordeuropäer verstehen nicht, warum die Türkei so wichtig ist.


Wie wird dieses neue Gleichgewicht austariert sein?

Die neue Fragilität der EU erhöht den Druck in Richtung Konsolidierung. Dass die EU-27 beim Corona-Aufbaufonds über ihren Schatten gesprungen sind . . .

»„Die Coronapandemie verändert nicht die Welt, sondern sie zeigt die Welt, wie sie wirklich ist.“«

Ivan Krastev, Politologe und Buchautor

. . . und erstmals der gemeinsamen Schuldenaufnahme zugestimmt haben . . .

. . . lässt sich nur dann verstehen, wenn man begreift, dass Covid-19 den Europäern vor die Augen geführt hat, dass sie heute nur auf sich selbst zählen können. Die USA werden introvertierter, ob mit Trump oder ohne ihn. China verhält sich aggressiver, Russland auch, detto die Türkei. Es gibt wirtschaftliche Probleme, Migrationsdruck. Daraus folgt die Erkenntnis: Wir haben nur die EU.

Die alten Konflikte sind deswegen aber noch lang nicht ausgeräumt.

Es ist ja auch alles andere als leicht, sie auszuräumen. Unlängst führte ich ein Gespräch mit dem niederländischen Finanzminister über den Streit zwischen Nord- und Südeuropäern. Er sagte Folgendes: „Um meine Position besser nachvollziehen zu können, müssen Sie wissen, dass der durchschnittliche Italiener ein höheres Vermögen besitzt als der Durchschnittsniederländer.“


Was vermutlich davon kommt, dass es in Italien mehr private Immobilienbesitzer gibt als in den Niederlanden.

Genau. Die Frage des Privatbesitzes erzeugt allerdings eine neue, anders verlaufende Bruchlinie: Niederländer, Deutsche und Österreicher haben ein niedrigeres Vermögen, aber ein höheres verfügbares Einkommen als die Südeuropäer. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: In dem Moment, indem Sie damit beginnen, materielle Ungleichheiten auf EU-Ebene auszugleichen, müssen Sie sich die Frage nach innerstaatlichen Ungleichheiten gefallen lassen. In Deutschland besitzt das oberste Prozent der Erwachsenen 35 Prozent des Gesamtvermögens, während die unteren 50 Prozent lediglich 1,4 Prozent besitzen.

Was ergibt sich daraus?

Je länger die Pandemie andauern wird, desto höher die Gefahr, dass Konflikte, die innerhalb der Gesellschaften schwelen, offen ausbrechen. Am Anfang hat die Coronakrise den Europäern vor Augen geführt, dass sie voneinander abhängig sind. Doch diese gegenseitige Abhängigkeit wird dann zum Problem, wenn sich die Einsicht verfestigt, die anderen würden nicht ihren Teil zur Bekämpfung der Krise beitragen.


Wird Covid-19 überall gleich dramatische Folgen haben?

Es gibt Unterschiede. So leidet Osteuropa darunter, dass viele Ärzte und Krankenpfleger ausgewandert sind. In Bulgarien ist der Anteil der Pfleger pro 1000 Einwohner der niedrigste in der ganzen EU, zugleich wurde und wird viel medizinisches Personal ausgebildet. Dass sich während der Pandemie so viele Ärzte angesteckt haben, hat mit ihrem Alter zu tun. In Bulgarien ist die Hälfte der Ärzte und Krankenschwestern älter als 50 Jahre. Die Jungen sind im Westen.

Die EU kann dieses Problem nicht lösen.

Nein, aber sie kann einfühlsamer sein und versuchen, diese Umbrüche zu verstehen und zu berücksichtigen.


Corona erzeugt nicht nur neue Verwerfungen, sondern macht auch vorhandene Brüche sichtbar.

In Anlehnung an den Schriftsteller José Saramago möchte ich es folgendermaßen beschreiben: Die Pandemie verändert nicht die Welt. Sie zeigt die Welt, wie sie wirklich ist.

Zur Person

Ivan Krastev (* 1965) ist ein bulgarischer Politikwissenschaftler. Er leitet das Centre for Liberal Strategies in Sofia und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Am 17. September wurde Krastev in Berlin der Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik 2020 überreicht. In seinen Büchern „Europadämmerung“ (2017, Suhrkamp) und „Das Licht, das erlosch“ (2019, Ullstein, gemeinsam mit Stephen Holmes) befasste er sich mit den innereuropäischen Gegensätzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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