Experten haben einen 703-seitigen Bericht vorgelegt: Darin ist von Fehleinschätzungen im behördlichen Corona-Management die Rede. Das Chaos bei der Abreise der Touristen aus Ischgl hätte nicht sein müssen.
Die sechsköpfige Ischgl-Expertenkommission unter dem Vorsitz des früheren Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes, Ronald Rohrer, präsentierte Montagnachmittag ihren 703 Seiten starken Bericht. Dieser befasst sich mit der Vorgangsweise von Bund und Land Tirol nach Ausbruch der Corona-Pandemie. Fazit: Es gab sehr wohl Fehlentscheidungen.
Die Hauptkritik der von ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter einberufenen – unabhängigen – Kommission lässt sich grob so untergliedern: Zum einen sei es „aus epidemiologischer Sicht falsch“ gewesen, das Skigebiet Ischgl nicht früher zu schließen. Zum anderen hätte das Ausreise-Chaos nach Bekanntgabe der Quarantäne-Maßnahmen für das Paznauntal und St. Anton am Arlberg durch Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht sein müssen. Die Tiroler Behörden seien auf die Kanzler-Ankündigung zuwenig vorbereitet gewesen.
Angefangen hatte alles am 5. März, als bekannt wurde, dass Island 14 Infizierte meldete, Personen, die aus Ischgl gekommen waren. Die Bezirkshauptmannschaft (BH) Landeck ordnete Erhebungen an. Zwei Tage später lag ein positiver Corona-Test des Kellners des Lokals „Kitzloch“ vor (es handelte sich tatsächlich um einen Kellner, der sich mit einer Trillerpfeife den Weg durch Menschenmassen bahnte, und nicht, wie oft kolportiert, um einen Barkeeper). Laut Kommission reagierte die BH vorerst prompt und richtig. Sie ließ etliche Testungen vornehmen. Doch dann seien falsche Konsequenzen gezogen worden.
Gefahr war „klar erkennbar"
Am 9. März wäre es – im Wissen um etliche positive Fälle – geboten gewesen die Lifte und die Gaststätten per Verordnung zu schließen. Tatsächlich wurde der Skibetrieb aber erst am 12. März für beendet erklärt. Und dies obwohl die Gefahr zuvor „klar erkennbar“ gewesen sei. 14 Après-Ski-Lokale seien als typische Orte für den Ausbruch von Covid-19 in Frage gekommen.
Gab es Druck seitens der Tourismus-Verantwortlichen auf die Behörden? Machten Gastronomen und die Seilbahngesellschaft ihren Einfluss geltend, um ein Herunterfahren der Betriebe hinauszuzögern? Dies verneint die Kommission. Man habe mit 53 Auskunftspersonen aus verschiedenen Bereichen gesprochen, niemand habe dies bestätigt.
Platter kündigte am 12. März an, dass mit Ablauf des 15. März die Tiroler Skisaison beendet werde. Dies sei laut Kommission richtig gewesen. Der Landeschef habe sich bei einer vorhergehenden Besprechung auch von Wirtschaftsvertretern nicht erweichen lassen, diesen Zeitpunkt hinauszuzögern.
Unzulässig sei hingegen die Änderung der behördeninternen Geschäftsverteilung gewesen. Durch eine Übertragung von Aufgaben des Landesrats an den Landesamtsdirektor sei die politische Verantwortlichkeit ausgedünnt worden. Der Landesamtsdirektor „wurde überfrachtet“, allerdings hätten keine negativen Auswirkungen auf den Pandemie-Verlauf festgestellt werden können.
Presse-Informationen „unwahr"
Presse-Informationen des Landes, welche die Gefahr herunterspielten („Ansteckung durch Kellner eher unwahrscheinlich“) seien hingegen „unwahr und daher schlecht“ gewesen.
Auch legte die Kommission der Staatsanwaltschaft Innsbruck eine Sachverhaltsdarstellung vor, in deren Mittelpunkt Ischgls Bürgermeister Werner Kurz steht. Dieser habe eine Verordnung zur Beendigung des Seilbahnbetriebs verspätet publik gemacht.
Das oft erwähnte Chaos bei der Abreise der Touristen aus Ischgl hätte auch nicht sein müssen. „Auslösendes Moment“, so Rohrer, sei die Pressekonferenz von Bundeskanzler Sebastian Kurz gewesen. Die Ankündigung der Quarantäne-Maßnahmen habe die Tiroler Behörden unvorbereitet getroffen. Die BH hätte besser eingebunden werden müssen. So aber sei es zu Panikreaktionen der Urlauber gekommen. Man hätte den Gästen sagen müssen, dass sie übers Wochenende geordnet abreisen könnten. Der Bundeskanzler habe die Folgen seiner Ankündigung falsch eingeschätzt, was wohl auf die gesamte Situation zurückzuführen sei.
Zudem kritisierte Rohrer das Gesundheitsministerium. Dieses habe trotz frühem Wissen über die Ansteckungsgefahr den überarbeiteten Pandemieplan nicht veröffentlicht.
Platter gestand in einer Reaktion Fehleinschätzungen zu, meinte aber auch, dass „viele Dinge gut gelaufen sind“. Die politische Opposition zur schwarz-grünen Tiroler Landesregierung sowie der Verbraucherschutzverein VSV (Obmann: Peter Kolba), der die Rechte von Corona-Geschädigten aus der Region Ischgl vertritt, übten indessen heftige Kritik an den Verantwortlichen.
Der schwer unter Beschuss geratene Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) hält den Bericht der Expertenkommission für "wertvoll". Er gebe den Verantwortlichen die Möglichkeit, "bei der Bekämpfung des Coronavirus besser und noch effizienter zu werden", erklärte Tilg. "Kritikpunkte" nehme sich der Krisenstab "zu Herzen“. Diese würden in den nächsten Tagen eingehend geprüft, man wolle die Empfehlungen schnellstmöglich umsetzen, kündigte Tilg an und nannte den Bericht eine "fundierte und sachliche Analyse des Tiroler Krisenmanagements".