„I May Destroy You“

Eine Serie wie im Drogenrausch

I May Destroy You
I May Destroy YouHBO
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In „I May Destroy You“ erzählt die Britin Michaela Coel vom Leben und Trauma einer jungen Frau und findet dabei betörende, verstörende Bilder.

„Darf ich?“, fragt der nette Italiener, den Arabella vor ein paar Stunden in einem Club kennengelernt hat. Er hat sie seither begleitet, man könnte auch sagen: auf sie aufgepasst. Er hat ihr die Geldbörse nachgetragen, die ihr aus der Tasche gepurzelt ist. Ihr aufgeholfen, als sie das Gleichgewicht verloren hat. Er hat mit ihr den Club nach der Freundin abgesucht, die aber schon gegangen war, sie hatte sich sogar verabschiedet, aber Arabella kann sich nicht mehr erinnern: Sie war im Rausch. Kokain, Alkohol, Musik, Menschen. Als der Rausch abgeklungen ist, hat der Italiener sie nach Hause begleitet, sie haben sich geküsst, sanft, jetzt liegt er neben ihr, über ihr, fragt: „Darf ich?“ – und zieht dann den Tampon aus ihrem Körper, vollgesogen. Blutig.

Wenn Sie das jetzt graust, dann ist diese Serie ziemlich sicher nichts für Sie. Was schade ist. Denn es gibt wenige filmische Arbeiten, die so unverkrampft und bis ins Detail anarchisch vom Leben moderner Frauen berichten, die gern feiern, in den sozialen Medien zu Hause sind, die coolsten Ecken der Stadt kennen, die glauben, ihnen gehöre die Welt. Wenn nicht ihnen, wem dann?

Ja, wem? Und was, wenn sie sich täuschen?

Mit Blessuren aufgewacht

Auch Michaela Coel ist so eine Frau. In „I May Destroy You“ erzählt sie über Strecken ihre eigene Geschichte. Sie hat das Skript verfasst. Sie hat Regie geführt. Sie spielt die Arabella. Und man weiß nicht, worin sie besser ist, im Schreiben, Inszenieren oder Spielen. Es wäre an der Zeit, eine Bezeichnung zu finden für diese Art der Serie, in der Frauen im Wesentlichen sich selbst darstellen und dabei oft verstörend offenherzig sind, für diese rabiaten Selbstentblößungen einer Lena Dunham („Girls“), Tig Notaro („One Mississippi“) oder auch einer Phoebe Waller-Bridge („Fleabag“). Für diese neue Art des Geschichtenerzählens, die wohl nur möglich wurde, weil in Zeiten der Streamingdienste ein so großer Bedarf an Stoff besteht, dass auch Experimente Platz haben.

Arabella jedenfalls lernen wir kennen, als sie nächtens am Computer sitzt. Bis morgen muss der erste Entwurf für ihr neues Buch vorliegen! Aber da draußen wird gefeiert, da draußen wird sie vermisst, und weil sie das nicht zulassen kann, folgt sie dem Ruf der eingehenden Nachrichten und schließt sich den Feiernden an. Als sie am Morgen aufwacht, mit Blessuren an der Hüfte, einem Cut auf der Stirn, hat sie vergessen, wie sie heimgekommen ist. Nur eine Erinnerung blitzt auf: Da war ein Mann über ihr.

„I May Destroy You“ erzählt – auch, aber nicht nur – von einer Vergewaltigung. Davon, wie aus einem Leben im Rausch ein Leben wie auf einem schlechten Trip wird. Wie Arabella zweifelt, an sich, an anderen und, statt durch die Nacht zu tanzen, mit einem Freund vor zwei Polizistinnen sitzt, noch immer leicht verwirrt. Michaela Coel hat für all das betörende, verstörende Bilder gefunden, ständig scheint die Kamera irgendwie wegzurutschen, die Szenen sich zu überschlagen, dazu kommt ihr zügelloses Spiel und ein Ende, das wohl noch einmal manchen vor den Kopf stoßen wird. Wenn er sich vom Tampon nicht schon hat abhalten lassen.

„I May Destroy You“: 12 Folgen à 30 Minuten, eine Koproduktion von HBO und der BBC. Ab 18. 10. auf Sky.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2020)

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