Damals schrieb

Paris sehen und leben

Wien, 20. October 1870.

Paris! Paris! Paris sehen und dann – leben! Jedermann mochte den Wunsch theilen, Paris zu sehen, bevor er stirbt, und wer es schon gesehen, der wünschte, bevor er stirbt, und wer es schon gesehen, der wünschte, bevor er stirbt, es noch einmal zu sehen. Wer aber gar keine Hoffnung hatte, jemals dahin zu gelangen, und in der Gewohnheit dieser Hoffnungslosigkeit mit der Zeit sogar den Wunsch danach einbüßte, wer gar keine anderen Beziehungen zur Hauptstadt Europas hatte, als seine Kenntniß der französischen Geschichte und Literatur, dem war nichtsdestoweniger das bloße Bewußtsein, daß Paris existirt, eine seiner intimsten und seiner wahrhaftigen Lebensfreuden.

Worin besteht – ach, bestand! – der Reiz von Paris? Die Frauen lächeln mitleidig, die Lebemänner lächeln spöttisch oder cynisch zu dieser Frage. Jene werfen einen verständnisreichen Blick auf ihr Bild im Spiegel und streiften dabei über irgend einen Theil ihrer Toilette, wäre es auch nur ein unscheinbares Seidenbändchen; auch dieses kann zeigen, worin der Reiz von Paris bestand. Die Lebemänner versichern, jeder ihrer einzelnen Sinne, und dann erst ihre ganze Sinnlichkeit zusammengenommen, spitze die Ohren bei dem bloßen Schalle des Wortes Paris – einem Schalle, in welchem alle einzelnen Freuden dieser Erde zu einer ungeheuren Symphonie zusammenbrauen.

Der Frauen mitleidiges und der Lebemänner cynisches Lächeln erwidert der einsame Stubengelehrte mit einem verächtlichen Lächeln. Er hatte sich, wenn er an Paris dachte, niemals einen Schneider vorgestellt, auch nicht die Speisekarte des Café Riche und selbst nicht die architektonischen Wunder der großen Plätze, ja nicht einmal die ästhetischen Schätze des Louvre. Ihm war Paris blos ein Begriff, und dennoch war er von Paris bezaubert. Worin bestand dieser Reiz? Hieronymus Lorm.

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