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Stadtflucht mit Zukunft

Ein Leben auf dem Land erscheint für viele wieder erstrebenswert. Doch welche Wirtschaftsmodelle und Baustrukturen vermögen es, das Bestehende so weiterzuentwickeln, dass auch Ansässige bleiben wollen? Dieser Frage stellen sich zwei Ausstellungen – in Graz und im slowenischen Grad.

Der ländliche Raum sei Profiteur der Covid-19-Pandemie, ist allenthalben zu hören. Die Luft ist besser, das soziale Distanzhalten einfacher und das Konsumentengewissen beruhigt, wenn man die Eier ab Hof holt. Strukturschwäche der Landregionen werden die neuen Stadtflüchtigen nicht beheben; das Phänomen des erwachten Interesses am Land macht sie bloß sichtbarer.

Zwei Ausstellungen lenken in dieser Zeit, die eine Renaissance des Landlebens verspricht, den Blick auf Wege, dieselbe in Gang zu setzen. Das Haus der Architektur Graz zeigt in strohballendekoriertem Ambiente aktuelle Strategien für das Landleben von morgen. Eingestimmt von Monika Müllers Dokumentation „Landflucht“ über Abwanderung und Dörfer im Südburgenland, in denen die jüngsten Einwohner den 50. Geburtstag hinter sich haben, holen zehn internationale Beispiele neuer Denkansätze die Besucher wieder aus der mentalen Abwärtsspirale. In der Hügellandschaft der südchinesischen Provinz Songyang realisierte die Architektin Xu Tiantian mit der Bevölkerung Orte der Kultur, des lokalen Handwerks und der Begegnung. Mit geringem Budget wurde Ortstypisches weiterentwickelt und das Selbstverständnis der Gemeinden zum Positiven verändert. Im Dorf Pingtian wurden in einer bestehenden Gebäudegruppe eine Ausstellung über landwirtschaftliche Geräte und eine Blaufärberei eingerichtet und wurde demonstriert, wie mit lokalen Mitteln zeitgenössische Lösungen umzusetzen sind. Wenn Politik, Bevölkerung und Gestalter gut zusammenarbeiten, lässt sich vieles bewegen, so die Botschaft dieses Beitrags aus Fernost.

Dass baulicher Verfall nicht zwangsläufig ein Zeichen des Niedergangs ist, behauptet der US-amerikanische Wissenschaftler Jason Rhys Parry. Mit seinen aus aller Welt zusammengetragenen Beispielen von Ruinen, derer sich die Natur bemächtigt hat, zeigt er auf, dass Reste von Gebäuden als Biotop für Tiere und Pflanzen neuen Nutzen bekommen: ein Appell, bei der Planung neuer Gebäude zu bedenken, dass wir nicht nur für uns Menschen planen.

Einzelne Ortschaften dem Lauf der Natur zu überantworten wäre vermutlich in der Region Goričko eine leichte Übung. Im hügeligen Teil der Prekmurje, dem Übermurgebiet, gelegen, ist sie im Dreiländereck von Slowenien, Ungarn und Österreich Teil des trilateralen Naturparks Raab-?rség-Goričko. Die Kulturlandschaft ist von kleinteiliger Landwirtschaft geprägt. Meist erfolgt die Bewirtschaftung im Nebenerwerb, erklärt Stanka Dešnik, Landschaftsarchitektin und Direktorin des Naturparks Goričko. Die einst typische Milchwirtschaft ist fast verschwunden. Es breitet sich die Agrarindustrie aus, und mit zunehmendem Interesse österreichischer Bauern an Agrarland steigen die Preise, wodurch trotz Vorkaufsrechts lokale Kleinbauern chancenlos sind. Stanka Dešniks Büro befindet sich im Besucherzentrum des Nationalparks, Schloss Grad, einer ringförmigen Anlage, die auf einem Hügel über dem Dorf thront. Von September bis Anfang Oktober gaben sich neben Touristen Schulklassen, Unternehmer und Bürgermeister aus der ganzen Nationalparkregion die Klinke des Schlosstors in die Hand.

Groß war das Interesse an der Ausstellung „Goričko: Countryside revisited“, in der Studierende der Architektur aus Wien, Graz und Ljubljana ihre Semesterprojekte präsentierten. Unter Auslotung lokaler Potenziale lieferten sie auf hohem Niveau Beiträge zu neuen Formen des Lebens und Arbeitens in der Region und zeigten auf, wie Architektur, Natur und Kulturlandschaft einander zu befruchten vermögen.
Wir baut man auf dem Land? Diese Frage sei vielleicht in Vorarlberg geklärt, meint András Pálffy, für den das vergangene Semester sein letztes als Professor für Gestaltungslehre an der TU Wien war. „Im Zusammenwirken mit der Landschaft sind es oft historische Ensembles, die einen Ort charakterisieren und zur Identität der Region beitragen.“

Es gelte daher Antworten zu finden, wie man mit einer durch den Strukturwandel einer Erosion ausgesetzten Landschaft umgehen und sie wieder positiv besetzen könne. Gemeinsam mit Tina Gregorič, Professorin an der Abteilung Gebäudelehre, Professor Hans Gangoly aus Graz sowie Vasa J. Perović und Maruša Zorec, die beide eine Professur in Ljubljana innehaben, wurde parallel zu den Entwurfsseminaren ein umfassendes Begleitprogramm angeboten. In Exkursionen und Vorträgen erhielten die Studierenden Einblick in die Geschichte der Kulturlandschaft, in regionale Bau- und Handwerkstraditionen, nachhaltiges Bauen und bäuerliche Produktionsweisen. Sie befassten sich mit den Bauten und Skulpturen von Walter Pichler in St. Martin an der Raab im Burgenland und erhielten Know-how aus der Ziegelindustrie. Dieser ist es durch bereitgestellte Drittmittel zu verdanken, dass das umfangreiche Programm und die Ausstellung umgesetzt werden konnten. Vorgaben seitens der Geldgeber gab es keine, betont András Pálffy.

Spannendes zum Thema Ziegel, einem Baustoff, den laut Pálffy viele nicht mehr auf dem Radar haben, gab es dennoch zu sehen. Tina Gregorič stellte ihren Studierenden die Aufgabe, sich im Sinne der Kreislaufwirtschaft mit neuen Methoden der Ziegelherstellung, die ob der lehmigen Böden in der Region Tradition hat, zu befassen und eine Ziegelakademie für Grad zu entwerfen. Neue Flugasche in Kombination mit Abbruchmaterial ermöglicht das Aushärten der Ziegel ohne Verbrennungsprozess, somit mit minimierten CO2-Emissionen. Abfälle aus der Landwirtschaft wie Maisstroh oder Viehmist verbessern mechanische und thermische Qualitäten des Baustoffs. Maruša Zorec, die mit ihrem Büro Arrea die einfühlsame Renovierung von Schloss Grad verantwortet, hielt ihre Studierenden zum bewussten Umgang mit regionalen Materialien an, um inspiriert von den Bautypologien der Vergangenheit eine zeitgemäße Architektur zu entwickeln. Von Wohnformen für alte Menschen über touristische Infrastrukturen bis zu diversen Manufakturen und landwirtschaftlichen Gebäuden reicht das Spektrum der bearbeiteten Themen.

Für die Architektur bieten sich zahlreiche Aufgaben in diesem Themenfeld der Reaktivierung dörflicher Potenziale. Der Nachwuchs ist bereit – es braucht diesseits wie jenseits der Grenze noch das Bewusstsein, dass eine Stärkung des ländlichen Raums ohne Baukultur ein Ding der Unmöglichkeit ist. ■

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