Leitartikel

Unsere neue diffuse Normalität

Massive regionale Unterschiede gibt es nicht nur bei der Ausbreitung, sondern auch bei der Eindämmung vor Ort. Im Bild ein Markt in Wien, wo die Zahlen erfreulicherweise wieder leicht zurückgehen.
Massive regionale Unterschiede gibt es nicht nur bei der Ausbreitung, sondern auch bei der Eindämmung vor Ort. Im Bild ein Markt in Wien, wo die Zahlen erfreulicherweise wieder leicht zurückgehen.(c) ALEX HALADA / picturedesk.com
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Nach acht Monaten im Auf und Ab eines Krisenmodus geht das Verständnis verloren: Professionalität statt regionalen Klein-Kleins wäre notwendig.

Das Jahr 2020 wird als merkwürdiges, als schlechtes, als forderndes Jahr in die Bücher eingehen. Als Zäsur nach einem Jahrzehnt weltweiten Wirtschaftsaufschwungs und globalen Optimismus, in dem es zwar auch Kriege und Krisen gab und in dem die globale Umverteilung von Wohlstand von den USA nach China einen gewissen Donald Trump ins Weiße Haus spülte – aber das klar aufwärtsging.

Viele Länder und Gesellschaften waren so mit sich selbst beschäftigt, dass kaum jemand merkte, wie gut es uns ging. Selbst als Covid-19 im Frühling die Welt lahmlegte, in manchen Ländern die Zahl der Todesopfer nach oben schnellte, in noch viel mehr die Wirtschaft so schnell einbrach wie selten zuvor, blieb der Zweckoptimismus, der auf dem Grundvertrauen in die eigene Stärke fußte – individuell wie kollektiv. Aus dem Oktober betrachtet wirken jene Monate des Lockdown wie eine zwar schmerzliche, aber positive, weil gesundheitspolitisch erfolgreiche Phase. Die Zahlen der Infizierten gingen zurück. Es folgte ein Sommer der Hoffnung und des Verdrängens, dass wir mit ähnlichen Szenarien bald wieder konfrontiert sein könnten.

»Sind die Sterbezahlen dieser Pandemie hoch genug, um Länder und ihre Wirtschaft noch einmal in eine derart tiefe soziale Krise zu stoßen?«

Nun ist es so weit. Die Zahlen sind hoch, auch wenn sie in Wien erfreulicherweise wieder leicht zurückgehen, Maßnahmen, die unser Leben einschränken, werden wiederergriffen und beschlossen.
Die Sterbezahlen dieser Pandemie sind höher als bei einer Grippewelle, so viel steht fern der Weltverschwörungstheorie fest. Aber sind sie hoch genug, um Länder und ihre Wirtschaft noch einmal in eine derart tiefe soziale Krise zu stoßen? Die Antwort ist eine vage: So hoch sind sie definitiv nicht. Aber sollten sie explosionsartig nach oben schnellen und das bisher äußerst robuste Gesundheitssystem kollabieren, ist alles denkbar.

Ist das realistisch? Nein, aus heutiger Sicht und nach Meinung der maßgeblichen Experten nicht. Viel mehr werden wir uns an die Zahlen gewöhnen müssen und mit einem ständigen Auf und Ab an Beschränkungen leben. Ein Schritt vor, zwei zurück, drei nach vorne. Das klingt nicht exakt wie das Gegenteil dessen, was wir alle endlich hören und fühlen wollen: Klarheit. Die gibt es nicht. Das ist erschöpfend, frustrierend und macht nicht wenige zornig. Nur: Es lässt sich nicht ändern.

Kein anderer Politiker verkörpert die Veränderung in diesem Jahr und dieses neue diffuse Gefühl wie Gesundheitsminister Rudolf Anschober: Zu Beginn der Krise war er der gute Hausarzt für das ganze Land, aufmerksam, besonnen und klar in der Botschaft. Wir befolgten ein paar einfache Regeln wie Händewaschen, soziale Kontakte eindämmen, Abstand halten, und alles würde nicht so schlimm werden.

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