Film

Der Horror des kleinen Kindes

Wiebke (Nina Hoss) holt Raya (Katerina Lipovska) vom Kindergarten ab und erfährt: Kein Kind will mit ihrer Adoptivtochter spielen, alle fürchten sich vor ihr.
Wiebke (Nina Hoss) holt Raya (Katerina Lipovska) vom Kindergarten ab und erfährt: Kein Kind will mit ihrer Adoptivtochter spielen, alle fürchten sich vor ihr. Temelko Temelkov
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In „Pelikanblut“ von Katrin Gebbe treibt eine traumatisierte Adoptivtochter ihre Mutter zur Verzweiflung. Kann das denn sein, dass eine Fünfjährige abgrundtief böse ist?

Eine Szene im Badezimmer. Wiebke steht unter der Dusche, das Wasser perlt über ihre Haare, prasselt auf ihre Schultern, sie entspannt sich, doch man ahnt: Das geht nicht gut aus. Das ist auch bei Hitchcock nicht gut ausgegangen. Schon ertönt ein Schrei! Ein heller, alles durchdringender Schrei.

Doch da ist kein Mann mit einem Messer. Da ist nur die fünfjährige Raya, sie hat Feuer gelegt im Kinderzimmer, die Flammen schlagen schon fast bis zur Decke, Wiebke, im Bademantel, packt die Kinder, zerrt sie vors Haus, auch wenn Nicolina, Rayas ältere Schwester, sich sträubt und weint: Ihr Kuscheltier liegt in den Flammen!

Wiebke wird das Feuer löschen und mit den Kindern das Zimmer ausmalen, als sei nichts geschehen. Als hätte Raya nicht wieder einmal bewiesen, dass ihr nicht zu trauen ist, dass die anderen recht haben, wenn sie sagen, Wiebke soll das jüngst adoptierte Kind zurückgeben. Dieses Mädchen mit den Engelshaaren und dem niedlichen Gesicht, das dem kleinen Noah einen Stock in den Anus gesteckt hat, das seine Schwester gebissen hat, bis sie blutete, das schreit: „Ich mache dich tot!“ Raya, der Teufelsbraten.

Raya, das tief traumatisierte Kind. Nach dem Vorfall mit dem Feuer wird Wiebke im bulgarischen Waisenhaus anrufen und nicht locker lassen, bis man ihr verraten hat, was Raya widerfahren ist. Eineinhalb Jahre war sie alt, da wurde ihre Mutter, eine Prostituierte, ermordet. Sie sah den Mord mit an und blieb tagelang allein mit der Leiche. Der Psychiater wird sagen, dass Raya keine Emotionen mehr hat. Kein Mitgefühl, keine Angst, keine Liebe. „Reaktive Bindungsstörung“ – so der Fachausdruck.

Es ist ein frappierender Film, den Katrin Gebbe hier vorgelegt hat. Ein Horrorfilm mit Horrorkind, das brüllt und böse knurrt wie Regan in „Der Exorzist“. Ein Film über eine Frau, die wie die mythische, ihre Brut mit dem eigenen Blut nährende Pelikanmutter alles aufs Spiel setzt, um ihr Kind zu retten: ihre finanzielle Existenz. Das Wohlergehen der anderen Tochter. Eine aufkeimende Liebe. Die eigene Gesundheit. Heimlich schluckt sie Tabletten, um Raya stillen zu können. Wer ist denn hier besessen? Die Mutter? Das Kind?

Paradoxe Intervention

Wir erinnern uns: Auch in Nora Fingscheidts so kraftvollem wie erschütterndem Film „Systemsprenger“ stand ein Mädchen im Mittelpunkt, das zu kaputt ist, als dass Liebe oder Erziehung ihm helfen könnten. Und auch diese Benni konnte zornig werden, außer sich sein vor Wut – und dabei gefährlich. Aber sie kam uns nahe, zum Heulen nahe.

Raya stößt dagegen uns Zuschauer zurück (wunderbar, wie Katerina Lipovska sogar dann noch bedrohlich wirkt, wenn sie die lila Mähne eines Plastikponys kämmt). Und ihre Adoptivmutter, so unaufgeregt angespannt gespielt von Nina Hoss, macht nichts falsch, im Gegenteil, sie ist liebevoll und streng, wo dies sein muss, versteht sich auf die Schaffung stabiler Strukturen genauso wie auf paradoxe Interventionen. Sie besitzt Autorität, erworben durch ihre Arbeit mit Polizeipferden, die sie trainiert, damit sie auch bei Beschuss mit bengalischem Feuer nicht die Ruhe verlieren. Nein, hier geht es nicht um pädagogische Fehler. Hier geht es gar nicht um Pädagogik. Sondern um existenzielle Angst, unsere Hilflosigkeit vor dem Bösen, die Furcht, zu versagen.

Auch der Schluss ist irre – und stößt uns vor den Kopf, weil man sich fragt, was für eine Botschaft er senden will, aber das ist eigentlich egal. „Pelikanblut“ ist einfach kein Film mit Botschaft. Nur einer, der etwas in uns aufrührt. Das sind oft die besten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2020)

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