Literatur

Das Lob des unerhörten Zufalls

Erzähle lieber ungewöhnlich: Das gilt bei Heinrich Steinfest für die Handlung wie auch für die Personen.
Erzähle lieber ungewöhnlich: Das gilt bei Heinrich Steinfest für die Handlung wie auch für die Personen. Burkhard Riegels
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Am Anfang von Heinrich Steinfests »Der Chauffeur« steht eine Fehlentscheidung, am Schluss ist jede Schuld beglichen. Dazwischen werden überraschende Geschichten gekonnt verwoben.

Wie viele voneinander unabhängige Geschichten verträgt ein Roman? Wenn es nach Heinrich Steinfest geht, mindestens vier. „Fäden“ nennt der österreichische Schriftsteller sie in seinem jüngsten Buch „Der Chauffeur“ und nummeriert sie einfach durch. Aber mit „einfach“ hat es sich damit auch schon, denn „einfach“ ist Heinrich Steinfests Sache noch nie gewesen. Er liebt das Einzigartige, das Außerordentliche, das leicht Elitäre – sowohl in Personen als auch in Informationen. Die Welten, in die Steinfest die Leser entführt, sind ungewöhnlich, bevölkert von ebensolchen Figuren. Wenn auch dazwischen nicht immer alles Sinn ergibt, genießt man diese abwechslungsreiche literarische Reise dennoch in vollen Zügen.

Der Titel ist etwas irreführend. Denn Chauffeur ist Paul Klee (der Name ist Zufall und keine Hommage an den Maler) nur am Anfang des Romans. Der hat es aber in sich. Als Fahrer des späteren deutschen Kanzlers trifft Klee nach einer Massenkarambolage in einem Tunnel die falsche Entscheidung: Anstatt einen elfjährigen Buben zu retten, zieht er seinen Arbeitgeber aus dem Wrack des Autos. Das macht ihn in der Öffentlichkeit zur Persona non grata und führt zu seiner Entlassung. Diese vergoldet ihm sein Ex-Chef wenigstens, verdankt er doch Paul sein Leben.

Mit dem Geld erfüllt sich Paul Klee einen Traum und kauft ein Haus, das er in das feine „Hotel zur kleinen Nacht“ umbaut, komplett mit der weltbesten Eierspeise zum Frühstück. Praktischerweise verliebt er sich gleich in die Maklerin Inoue, die im Leben wie im Beruf seine Partnerin wird.

Die große Rückkehr. Inoue hat aus erster Ehe zehnjährige Zwillinge, Uwe und Iris. Diese beiden entwickeln im Laufe des Sommers nicht nur eine Faszination für Thomas Manns „Der Zauberberg“, sondern beobachten eines Nachts auch den Absturz eines höchst ungewöhnlichen Objekts auf der Wiese hinter dem Hotel. Dieses stellt sich zur allgemeinen Überraschung als „Sputnik 2“ heraus, das die Sowjets 1957 in den Weltraum geschossen hatten, mit Hündin Laika an Bord. Das Erstaunlichste: Das Tier, mittlerweile an die 60 Jahre alt, lebt. Das Ereignis geht als „die große Rückkehr“ in die Geschichte der Menschheit ein.

Der Vorfall löst aber mehr aus als blankes Erstaunen. Mit der Zeit nimmt die Zahl der Verkehrsunfälle zu, dann werfen Menschen ihre Smartphones ins Wasser, deutlich haarigere Babys werden geboren. Das Fach Mathematik gerät ins Abseits, „trotz seiner Erhabenheit, aber auch eingedenk der schrecklichen Dinge, die es Schülern und anderen Menschen angetan hatte“. Gleichzeitig wird die Menschheit ruhiger und glücklicher – Opfer einer wohlwollenden psychisch-emotionalen Pandemie, offenbar ausgelöst von einer fernen Intelligenz, die die Menschheit vor sich selbst retten wollte.

Ein Gast verschwindet. Klingt abgehoben? Vielleicht, aber Steinfest bleibt mit beiden Beinen fest auf der Erde und nutzt die Gelegenheit, der modernen Menschheit einen Spiegel vorzuhalten. Und er bietet dem Leser auch noch andere Fäden an: Zum Beispiel das mysteriöse Verschwinden des Hotelgasts Klemens Holl – eines ehemaligen Kommissars, der einen ungelösten Fall aufklären will und dessen Hauptverdächtige ausgerechnet die Nachbarin von Paul Klee und Inoue ist. Auf der Suche nach Holl gerät auch Klee in Lebensgefahr, aus der er wiederum von der unwahrscheinlichsten aller Personen gerettet wird.

Steinfest liebt diese unerhörten Zufälle, die weit auseinander hängende Fäden zusammenführen und verknüpfen. Wo die Lösung eines Rätsels in einer falschen Abzweigung liegt. Wo Menschen unwissentlich eine lang zurückliegende Schuld zu einer ganz anderen Zeit und an einer ganz anderen Person begleichen und Frieden finden.

„Der Chauffeur“ ist von vielem ein bisschen: Krimi, Liebesroman, Kunstbetrachtung, Science-Fiction, Gesellschaftskritik. Vor allem aber werden wunderbare Geschichten erzählt von einem, der kunstvoll viele Fäden gleichzeitig spinnen kann. ⫻

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