Sie kamen als Iren, Ungarn, Juden, Ukrainer, Deutsche – und wurden Amerikaner.
Vereinigte Staaten

Es war einmal: Das gelobte Land

»Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen« steht am Sockel der Freiheitsstatue. Die multikulturelle Welt der Vereinigten Staaten entstand durch Einwanderung. Ein Auszug aus unserem neuen Magazin »Die USA. Geschichte einer Weltmacht«.

Die Liste der Hallers ist sehr lang. Marie, Otto, Franziska, Melanie, Fritz usw., insgesamt 3789 wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Hafen von New York registriert. Der Autor dieser Zeilen kann nur vermuten, ob eine oder einer von ihnen zu seiner Verwandtschaft zählt. Sie kamen aus Deutschland, Dänemark, der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Schweiz, auch die Namen ihrer Schiffe wurden festgehalten. Sie waren ein paar Tausend von zwölf Millionen Einwanderern, die sehnsüchtig auf den Anblick der Freiheitsstatue, das Symbol der Neuen Welt, warteten.

1892, als die meisten Einwanderer aus Europa nach Amerika strömten, eröffnete die Einwanderungsbehörde hier, an der Südspitze Manhattans, das Durchgangslager Ellis Island. In einem Backsteingebäude mit vier trutzigen Türmen, in einer 5000 Personen fassenden Halle, wurden die Papiere der Migranten und ihre Gesundheit kontrolliert, hier entschied sich, wer einreisen durfte und wer nicht. 98 Prozent konnten bleiben. Doch hatte jemand eine ansteckende Krankheit oder erschien er zu schwach für die Arbeit, wurde er zurückgeschickt, auch kranke Kinder über zwölf Jahre mussten die Rückreise antreten, möglicherweise allein, das entschieden die Eltern. So wurde Ellis Island auch die „Insel der Tränen“ genannt.

Rund 40 Prozent der US-Amerikaner haben Vorfahren, die in den Hallen und Gängen von Ellis Island durchgeschleust wurden, Höhepunkte waren die Jahre 1892 und 1910. Die Gesichter der meisten Ankommenden waren ängstlich, die Menschen stumm und todmüde, sie trugen schäbige Koffer, manchmal nur Kartons mit ihrem Hab und Gut, die Kleider am Leib waren oft die einzigen, die sie hatten. Groß an ihnen war nur die Hoffnung.

Sie kamen als Iren, Ungarn, ukrainische und polnische Juden, Italiener aus Apulien, und sie wurden Amerikaner. Die individualistische und pluralistische Gesellschaft der Einwanderer errang eine neue und einheitliche Gesellschaftsform, letztendlich nationale Identität. Wie wurde dieser Prozess in Gang gesetzt? Wie wurden die Einwanderer aus verschiedenen Kulturen assimiliert und trotz ihrer Eigenarten integriert, wie wurden sie „echte Amerikaner“, ohne dass sie ihre herkunftsbedingte Identität völlig aufgeben mussten? Wie brachten die USA jeder Einwanderungsgeneration die grundsätzlichen amerikanischen Werte bei?

Als Mechanismus dienten die sorgfältig kultivierten Mythen, von der Auserwähltheit Amerikas, der Einzigartigkeit des amerikanischen Menschentypus, dem Sendungsbewusstsein und dem Land der individuellen Freiheit. Der Erfolgsmythos vom „Glück des Tüchtigen“ sollte die Neuankömmlinge zusammenschweißen und auf das Land einschwören, das ihnen Glück und Erfolg bescheren konnte. Mit totalem, persönlichem Einsatz konnte der Aufstieg gelingen, dann brachte es der Einzelne vom Tellerwäscher zum Millionär, egal welcher ethnischen Herkunft, Religion oder Kultur er entstammte. Er konnte stolz sein, diesem neuen Menschentypus des „Amerikaners“ anzugehören.

Dass diese Identität von Anfang an eine überwiegend angloamerikanische war, die WASP (White Anglo-Saxon Protestant)-Kultur, der sich die Zuwanderer anpassten, widersprach zwar den Ideen des Individualismus und kulturellen Pluralismus. Auch dafür gab es eine Lösung: Amerikanismus galt im kulturellen Selbstverständnis quasi als höhere Identitätsebene, die Individualismus und kulturellen Pluralismus in sich einschloss.

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