EU-Austritt

Brexit wie? Worum geht es derzeit eigentlich?

Archivbild der beiden Chef-Verhandler: David Frost (li.) und Michel Barnier nach einem Verhandlungsgespräch im August in Brüssel.
Archivbild der beiden Chef-Verhandler: David Frost (li.) und Michel Barnier nach einem Verhandlungsgespräch im August in Brüssel.REUTERS
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Der Brexit kommt mit Sicherheit am 1. Jänner. Aber wie? Und woran hakt es derzeit? Fünf Fragen und Antworten zum derzeitigen Stand des Brexits, der Verhandlungen und möglicher Konsequenzen des Scheiterns.

Der Brexit ist längt beschlossene Sache. Worum geht es also derzeit?

Großbritannien hat die Staatengemeinschaft Ende Jänner verlassen, ist aber bis Jahresende noch Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Die Briten haben während dieser Übergangszeit noch freien Zugang zum EU-Binnenmarkt und Exporte aus der EU ins Vereinigte Königreich unterliegen keinen Beschränkungen. Erst zum Jahreswechsel kommt der wirtschaftliche Bruch - die echte Bewährungsprobe für den Brexit. Und wie dieser Bruch aussehen soll, darüber wird zwischen Großbritannien und der EU heftig getritten.

Sollte keine Einigung zustande kommen, drohen schwere wirtschaftliche Verwerfungen. Zölle und Gebühren würden den Handel schwer belasten. Der Handelspakt soll das verhindern. Die Verhandlungen kommen aber seit Monaten in einigen Bereichen nicht voran. Und die Zeit drängt.

Woran scheitern die Verhandlungen?

Hauptstreitpunkte sind der Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern und die Forderung der Staatengemeinschaft nach gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaft, also gleiche Umwelt-, Sozial- und Subventionsstandards. Im Gegenzug soll Großbritannien Waren ohne Zoll und Mengenbeschränkung in den EU-Binnenmarkt liefern können.

Dritter wichtiger Punkt für die EU sind Regeln zur Schlichtung
für den Fall, dass eine Seite gegen das Abkommen verstößt. Das
rückte zuletzt in den Vordergrund, weil ein britisches Gesetz Teile
des bereits gültigen EU-Austrittsvertrags aushebeln soll. Dabei geht
es um Sonderregeln für den britischen Landesteil Nordirland. Brüssel
reagierte empört auf das sogenannte Binnenmarktgesetz. 

Aber auch die Fischereifrage ist politisch äußerst delikat. Zwar geht es „nur“ um einen jährlichen Umsatz von rund 700 Millionen Euro. Doch für Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, dessen Fischer 25 Prozent ihrer Fänge in britischen Gewässern einholen, wäre jedes Nachgeben zwei Jahre vor der Präsidentschaftswahl Gift. Entsprechend drohte Macron vor Beginn des Gipfels: „Auf keinen Fall dürfen unsere Fischer Opfer des Brexit sein. Es wird nicht um jeden Preis eine Einigung geben.“ Die Möglichkeit eines No-Deal sei real: „Wir haben uns darauf vorbereitet. Frankreich ist bereit dafür.“

Der britische Industrieverband CBI appellierte am Sonntag an beide Seiten, sich doch noch zu einigen. Ein No-Deal-Brexit und eine zweite Corona-Welle seien für die meisten Unternehmen nicht zu stemmen. Am Freitag senkte die US-Ratingagentur Moody's bereits die Kreditwürdigkeit Großbritanniens. Als Hauptgrund nannte die Agentur die nachlassende wirtschaftliche Stärke. Das Land befinde sich nach der Abstufung aber noch im Bereich sicherer Anlagen.

Wie ist die Lage der Verhandlungen aktuell?

Die britische Regierung hat zuletzt massiv mit einem Scheitern der Verhandlungen über den Brexit-Handelspakt gedroht. Die Chancen auf einen Deal seien gesunken. Brüssel sei nicht kompromissbereit, sagte etwa Staatsminister Michael Gove am Sonntag dem Sender Sky News. Er hatte die Chancen auf ein Abkommen nach der Brexit-Übergangsphase Ende des Jahres zuletzt auf 66 Prozent eingeschätzt. Jetzt sagte Gove: "Es ist weniger."

Großbritannien versucht also, den Druck auf die EU zu erhöhen. Es liege am EU-Unterhändler Michel Barnier, ob ein Deal doch noch zustande komme. "Der Ball ist in seinem Spielfeld", sagte Gove, der mit den Vorbereitungen auf ein Scheitern der Verhandlungen betraut ist. Die EU müsse ihre Haltung ändern.

Skeptische Töne kamen auch aus dem Europaparlament, das einem Post-Brexit-Deal zustimmen müsste. Die Vizepräsidentin der EU-Volksvertretung, Katarina Barley, sagte am Samstag, für einen Handelsdeal werde es "immer schwieriger". "Die Fischerei wird wohl draußen bleiben", sagte die Sozialdemokratin NDR Info. Wie ihr konservativer Kollege Manfred Weber erhob sie dabei schwere Vorwürfe gegen Premier Johnson. Dieser stehe vor den Scherben seiner Politik, sagte Weber den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Er wird den Briten in den kommenden Monaten erklären müssen, warum die Brexit-Versprechen unehrlich waren. Das Schwarze-Peter-Spiel aus London ist pure Show und bringt niemanden weiter", so Weber.

Wie sieht der weitere Zeitplan aus?

Der Zeitdruck, unter dem beide Seiten stehen, ist enorm: Denn ein Vertrag zwischen Brüssel und London müsste noch ratifiziert werden. Johnson hatte den 15. Oktober als Frist für eine Einigung gesetzt, die Brüssel ignorierte. Die EU will noch bis Ende Oktober verhandeln.

EU-Kommissionsvize Maroš Šefčovič traf in London den britischen Kabinettsminister Michael Gove. Am Nachmittag sollten zudem EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein britisches Pendant David Frost statt eines persönlichen Treffens zumindest telefonieren. Frost hatte nach dem EU-Gipfel mitgeteilt, Barnier solle am Montag nicht zu Gesprächen nach London kommen. Bedeutet das, dass die Tür für weitere Verhandlungen zugeschlagen ist? Gove sagte dazu im Sky-News-Interview: "Sie ist angelehnt."

Eine klassische Lösung des Konflikts wäre ein Spezialgipfeltreffen in Brüssel, auf dem ein sorgfältig choreografiertes Abkommen gleichsam als heldenhaft auf Chefebene errungen präsentiert werden könnte. So eine Trophäe brächte Johnson gewiss gern nach London, allein: Dieses derzeit ebenfalls sehr unwahrscheinliche Szenario setzt voraus, dass Barnier und Frost in den Details Einigung erzielen.

Was passiert, wenn sich EU und Großbritannien nicht einigen?

Ein Ende der Übergangsphase ohne Handelspakt - dieses Szenario möchten die Europäer um fast jeden Preis vermeiden. Die wirtschaftlichen Folgen eines derartigen Risses im dichten Handelsgeflecht mit den Briten wären gravierend – noch dazu würden sie mitten in die Coronarezession fallen. Bis zu 7000 Lastkraftwagen drohen ab 1. Jänner am Ärmelkanal ständig im Stau zu stecken, heißt es etwa in offiziellen Papieren.

Am Donnerstag warnte beispielsweise der europäische Autoherstellerverband davor, dass ein Brexit ohne Abkommen die Produzenten bis zu 110 Milliarden Euro kosten würde. Auf diese Stimmen hört die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, besonders genau. Sie wird folglich bis zum Schluss dafür zu garantieren trachten, dass es nicht die Europäer sind, die vom Verhandlungstisch aufstehen. Kurzum: Ein Verhandlungsabbruch durch die Union ist ziemlich sicher nicht zu erwarten.

Premierminister Boris Johnson hat hingegen mehrfach betont, dass Großbritannien auf einen No-Deal-Brexit vorbereitet sei. Viele Kommentatoren werten die barschen Töne aus London aber als Muskelspiel. Denn Großbritannien stehen sehr harte Zeiten bevor: Das Land muss starke wirtschaftliche Verwerfungen nicht nur bei einem No-Brexit-Deal fürchten, sondern auch wegen der Pandemie.

Die Brexit-Chronologie

1. Februar 2020 - Die Europäische Union hat nur noch 27 Mitgliedsstaaten. Am Samstag um Mitternacht (Freitag 23.00 Uhr Londoner Zeit) wird der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vollzogen.

25. Februar 2020 - Die 27 EU-Länder nehmen das Mandat für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen mit Großbritannien an. Damit können die Verhandlungen über ein Handelsabkommen im März beginnen.

12. Juni 2020 - Großbritannien lehnt eine Verlängerung der Brexit-Übergangsphase über das Jahresende hinaus ab.

7. September 2020 - Der britische Premier Johnson setzt die Europäische Union kurz vor der nächsten Brexit-Gesprächsrunde unter Druck. Bis zum 15. Oktober soll eine Einigung zu einem Handelsabkommen auf dem Tisch liegen. Ansonsten werde es kein Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union geben, so Johnson. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier zeigt sich besorgt.

29. September 2020 - Die EU und Großbritannien nehmen in einer weiteren Verhandlungsrunde Anlauf für den Handelspakt. Zeitgleich verabschiedet das britische Unterhaus ungeachtet aller Warnungen der Europäischen Union das umstrittene Binnenmarktgesetz von Premierminister Johnson. Es soll Teile des bereits gültigen Austrittsvertrags aushebeln.

1. Oktober 2020 - Die Europäische Union leitet rechtliche Schritte gegen Großbritannien wegen Verletzung des EU-Austrittsvertrags ein. Die Verhandlungen befinden sich wegen eines Streits um künftige britische Staatshilfen und um die künftigen Fischereirechte in der Sackgasse.

2. Oktober 2020 - Die stockenden Verhandlungen gehen auf die Chefebene. Der britische Premierminister Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beraten zusammen.

15. Oktober 2020 - Der EU-Gipfel verlangt von Johnson Bewegung, die 27 Staats- und Regierungschefs ignorieren damit das Ultimatum des britischen Premiers. Der EU-Gipfel fordert die britische Regierung auf, "die notwendigen Schritte zu unternehmen", um ein Handelsabkommen zu ermöglichen. Eine Frist für ein Ende der Gespräche setzt der Gipfel nicht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die Verhandlungen über einen EU-Handelspakt mit Großbritannien lieber scheitern lassen, als Kompromisse zulasten französischer Fischer einzugehen.

16. Oktober 2020 - Der britische Premier bereitet die Wirtschaft seines Landes auf einen harten Bruch mit der EU vor: Sollte die Europäische Union ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht grundlegend ändern, werde es einen Brexit ohne Handelsabkommen geben, sagt Johnson. Die EU verhandle nicht ernsthaft. Sein Land müsse sich deswegen ab Jänner 2021 auf eine neue Situation einstellen.

(APA/dpa/Reuters/Red.)

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