Mein Dienstag

Ach, Belgien

Wem geben die Belgier die Schuld für die besorgniserregende Entwicklung der Pandemie? Schwieriges Thema, eine Annäherung.

Europameister: Belgien hat diesen Titel derzeit beim Anteil der Coronatoten an der Gesamtbevölkerung, Intensivpatienten, Ansteckungen. Ich möchte hier nicht einen weiteren Text über die Pandemie schreiben, davon sind die Zeitungen ohnehin voll, und andere sind qualifizierter als ich, hier etwas Aufklärendes beizutragen. Nein, mich treibt eher jene Frage um, die am Montag meine Brüsseler Korrespondentenkollegin von der „New York Times“ in die Runde geworfen hat: „Wem geben die Belgier die Schuld?"

Schwieriges Thema. Als neutraler Beobachter erkennt man hierzulande mehrere Ebenen des Schwarzen-Peter-Spieles. Die prominenteste: Flamen gegen Wallonen und Brüsseler. Im Sommer, als in Antwerpen die Infektionszahlen rasant stiegen, unkte das linksliberale wallonische und Brüsseler politische Establishment über die Stadt, in der Bart De Wever, der mächtigste Politiker im Norden, Bürgermeister ist. Die Häme ist den Frankophonen mittlerweile vergangen, seit Städte wie Brüssel oder Lüttich nahe am Ausnahmezustand sind. Zweite große Ebene der Schuldzuschreibung: das politische System. Neun (ja, neun) Minister sind auf diversen Ebenen (Bund, Regionen, Sprachgemeinschaften) für Volksgesundheit irgendwie mitzuständig. Wenn alle zuständig sind, ist aber niemand zuständig. Diese „institutionelle Lasagne“ (eine Schicht Kompetenzen über die andere, viel fette Sauce dazwischen) verunmöglicht schnelle, klare Krisenreaktion.

Aber noch etwas ist es, meint der Schriftsteller Hugo Poliart, einst Sprecher der vormaligen Ministerpräsidentin Sophie Wilmès: Solidarität. „Das ist es in der Tat, was in unserer Gesellschaft fehlt“, schrieb Poliart am Montag auf Twitter. Aktuelles Beispiel: In Brüssel hat man das bildungspolitische Ziel, dass künftig jeder 18-Jährige dreisprachig ist. Sehr gute Idee. Doch vor Kurzem grätschte die frankophone Partei Défi quer und erklärte: geht nicht, denn „Französisch muss die Lingua franca Brüssels bleiben“. Kindern Zukunftschancen zu verbauen, aus Chauvinismus und Pfründedenken: Ach, Belgien, warum stehst Du Dir nur so oft selbst im Weg?

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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