Erinnerungskultur verlangt nach Präzision. Das Karl-Lueger-Bashing mit Denkmalsturzversuch ist das Gegenteil von Differenziertheit.
Da waren sie wieder. Die gleichen Menschen wie in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren. Ausgestattet mit viel Selbstbewusstsein und teils historischem Halbwissen. Wie ein ewiges Déjà-vu wiederholten sie, was sie in einer Mitmach-Enzyklopädie nachgelesen hatten: Lueger, der Antisemit. Ja, eh, und sonst? Funkstille.
In aller gebotenen Kürze: Karl Lueger war in erster Linie opportunistisch antisemitisch. Er hat sich aus politisch-utilitaristischer Räson an den Antisemitismus seiner Epoche im Übermaß angeglichen. Weitaus mehr, als heutige Politiker nahezu aller Couleur, die immer wieder fremdenfeindliche Stereotype bemühen, weil das bei Wahlen nützt. Lueger benutzte den Antisemitismus, er war ein Populist des Fin de Siècle, eine christlichsoziale Kultfigur. Seine Rhetorik war und ist abzulehnen, ebenso wie etwa die austromarxistische Kampfrhetorik von Otto Bauer oder Karl Marx' Schrift „Zur Judenfrage“, in der es vor antisemitischen Stereotypen nur so wimmelt.
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„ Bei aller Kritik gebührt Lueger das Denkmal am Ring“, meint der Historiker Lothar Höbelt.
Und der „Hitler-Balkon“ bleibt?
Vielleicht hat Arthur Schnitzler in seiner autobiografischen Betrachtung „Jugend in Wien“ Karl Lueger am treffendsten beschrieben: So unbedenklich er die niedrigsten Instinkte der Menge und die allgemeine politische Atmosphäre für seine Zwecke zu nutzen wusste, im Herzen war er, auch auf der Höhe seiner Popularität, so wenig Antisemit als zu der Zeit, da er im Hause des Dr. Ferdinand Mandl mit dessen Bruder Ignaz und anderen Juden Tarock spielte.