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Im ewigen Schatten von Papa Marx

Miss Marx
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Eleanor Marx kämpfte für Frauenrechte, tappte aber selbst aus der Abhängigkeit von ihrem Vater Karl in die von ihrem Geliebten. In „Miss Marx“ flippt sie schließlich zu Punk-Klängen aus: Der Film eröffnet am Donnerstag die Viennale.

„Was weder Papa noch die Ärzte noch sonst jemand verstehen will, ist, dass ich hauptsächlichen seelischen Kummer habe“, schreibt Eleanor Marx am 8. Jänner 1882 an ihre ältere Schwester Jenny. Mit ihrem Vater, Karl Marx, weilt sie gerade auf der Isle of Wright, wo dieser einen Kuraufenthalt absolvieren soll, doch das Wetter ist grauenhaft und Eleanor stürzt in eine Depression, die sie vor ihrem Vater geheim hält: Er würde sie nur für wehleidig und unzufrieden halten.

Es mache sie „halb wahnsinnig, hier zu sitzen, während vielleicht meine letzte Chance, etwas zu tun, dahin geht“, schreibt sie in dem Brief, einem der vielen, die erhalten sind und von den Töchtern Marx erzählen, die die fortschrittlichen Ideale ihres Vaters hochhielten und zugleich die aufopfernde Haltung einnahmen, die von Frauen erwartet wurde. Eleanor arbeitete als Sekretärin für ihren Vater (obwohl sie gerne Schauspielerin geworden wäre), dolmetschte für ihn, trennte sich für ihn von ihrem Verlobten, den er nicht guthieß – und träumte heimlich von Unabhängigkeit. Im nächsten Brief an ihre Schwester schreibt sie, wie selbstsüchtig ihr ihre Gedanken vorkommen: „Wie sehr ich ihn liebe, kann niemand wissen, und doch müssen wir alle schließlich unser eigenes Leben leben . . .“

„Miss Marx“, ein Film von Susanna Nicchiarelli, mit dem am Donnerstagabend in zehn Wiener Kinosälen die Viennale eröffnet wird, setzt ein Jahr später ein. Eleanor, die in ihrer Familie (in der sehr freudig Spitznamen vergeben wurden) von allen Tussy genannt wird, hält die Grabrede für ihren Vater. Sie ist 28 Jahre alt. Kurz danach steht sie mit Friedrich Engels in Papas Büro, raucht eine Zigarette, beginnt seinen Nachlass zu ordnen. Ob sie da schon ahnt, wie sehr das „eigene Leben“, das sie sich ersehnt hat, von seinem Erbe geprägt sein wird?

Der Film springt chronologisch durch die Jahre, von 1883 bis zu ihrem Suizid 1898, und veranschaulicht dabei vor allem eines: Wie Eleanor (mit stoischer Eleganz gespielt von der Britin Romola Garai) als rastlose Intellektuelle für sozialistische Reformen und die Gleichberechtigung der Frauen kämpft, privat aber in denselben Käfigen gefangen ist wie viele Frauen ihrer Zeit. Bis zu ihrem Tod führt sie mit Edward Aveling (Patrick Kennedy) eine unglückliche Beziehung. Edward ist ein politischer Mitstreiter und Dramatiker, der sich dann am wohlsten zu fühlen scheint, wenn er im Samtjackett in die Kissen sinkt und an seiner Opiumpfeife zieht. Er ist ein notorischer Lügner, kann nicht mit Geld umgehen, betrügt sie auf übelste Art – hinter ihrem Rücken heiratet er eine andere Frau. Einmal sagt sie in fast bewunderndem Tonfall: „Er hat einfach keinen Sinn für Moral.“

Anachronismen stören die Erzählung

Bei all dem Fokus auf das Liebesdrama, bei all den sorgfältig ausgestatteten Interieurs, in denen es sich abspielt (ein wahres Fest der Stoffe und Texturen), gibt sich Nicchiarelli Mühe, „Miss Marx“ nicht zu einem typischen Historienfilm zu machen. Hier fällt vieles aus der Reihe. Was London sein soll, wurde in Italien gedreht. Zu elektronisch verfremdeten Liszt- und Chopin-Melodien ackert sich Eleonor durch Briefe, Notizen, „Das Kapital“; zwischen den Kapiteln rütteln Neo-Punkklänge auf. Zu den krachenden E-Gitarren und wütenden Frauenstimmen der US-Band Downtown Boys sind Schwarz-Weiß-Fotos von Arbeiteraufständen eingeblendet, die ein Jahrhundert später stattfanden.

Solche Anachronismen stören immer dann die Erzählung, wenn man meint, gerade ein Gefühl für diese zerrissene Figur zu bekommen. Will die Regisseurin uns bewusst zweifeln lassen an der überlieferten Geschichte einer Frau, deren öffentliches und privates Leben offenbar so unterschiedlichen Maximen untergeordnet waren? So wirkt es, wenn dann auch die vierte Wand durchbrochen wird: Einmal spricht Eleanor ihre Parolen – die immer auch die Parolen ihres Vaters sind – direkt in die Kamera, an anderer Stelle schwingt sie leise eine feministische Kampfrede, während sie ihrem schlafenden Geliebten die Stirn abtupft.
Und dann sagt sie plötzlich, dass sie ihn verlässt: In wohlformulierten Worten rechnet sie mit ihrem Papa und ihrem Mann ab, die sie gehindert haben, eine eigene Identität aufzubauen. Ein Moment der Stille, dann lächeln Eleanor und Edward höflich in den Raum: Die Szene entpuppt sich als Aufführung von Ibsens „Nora“, die die beiden vor versammelter Gesellschaft geben.

Karls geheimer Sohn

In anderen Bereichen verlässt der Film kaum die Andeutungsebene. Das dürfte den Genuss schmälern für alle, die mit den Beziehungen und Dramen der Familie Marx nicht vertraut sind. Am deutlichsten wird noch erzählt, wie Engels, Eleanors onkelhafter Freund, dieser an seinem Totenbett gesteht, dass sein unehelicher Sohn in Wahrheit der von Karl Marx ist: ein neuer Bruder!

Der Ausbruch aus der ewigen Unglücklichkeit gelingt Eleanor nur in einer Fantasieszene. Zum punkigen Geschrammel flippt sie aus, tanzt, schreit: Ein Moment der Katharsis in einem gezügelten Film.

Viennale-Eröffnung

Von 22. Oktober bis 1. November findet das Wiener Filmfestival heuer statt. In zehn Kinos werden Filme gezeigt – unter verschärften Sicherheitsbedingungen, so muss etwa durchgehend Mund-Nasen-Schutz getragen werden.

„Miss Marx“ eröffnet das Festival: Die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli, die zuletzt in „Nico, 1988“ die Velvet-Underground-Sängerin Nico porträtierte, widmet sich darin der jüngsten Karl-Marx-Tochter Eleanor. Der Film soll am 12. März regulär in die österreichischen Kinos kommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2020)

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