The monuments of Yakutsk City in the Sakha-Yakutia Republic in Far East of Russia
Flusskreuzfahrt

Auf der Lena zu den sibirischen Schamanen

Jakutien wird von der gewaltigen Lena und ihren Nebenflüssen geprägt. Wer ihr bis zum Polarmeer folgt, erlebt atemberaubende Landschaften und eine faszinierende Kultur.

Die Abendsonne lässt die Lena silbern schimmern. Sie selbst ist nur noch ein oranger Punkt am Himmel von Sibirien. Je weiter sich ihr letztes Glühen dem breiten Fluss nähert, umso mehr scheint es die lila-grauen Wolken mit hinabzuziehen. Am Ufer, wo das Flussschiff Michail Sokolow vor Anker liegt, zünden Matrosen ein Lagerfeuer an. Dmitri Artjomow, ein großer Mann mit langer Lederfransenjacke, hebt beschwörerisch die Arme. Von seiner Mütze aus Polarfuchsfell hängt ein Schwanz aus hellem Rosshaar. Weiße Tiere, ganz besonders Pferde, sind den schamanischen Jakuten heilig.

Sprechgesang und rituelle Gesten

In seiner Muttersprache wendet sich der Einheimische an die Geister. Sie klingt, als würde er bei jedem Wort etwas verschlucken, faszinierend fremd. Dmitri ist Künstler, kein Schamane, auch wenn ihn viele dafür halten. Der feierliche Sprechgesang, der seinen rituellen Gesten folgt, gehört zum Nationalepos „Olonchó“, um das sich die Volkskultur Jakutiens (jakutisch: Sacha) dreht.
Die größte autonome Republik der Russischen Föderation breitet sich weit über deren Nordosten aus. Sie ist neunmal so groß wie Deutschland, ihre Bevölkerung jedoch um das Neunzigfache kleiner. Maßgeblich geprägt wird dieses menschenleere Riesenland von „Mütterchen Lena“ und ihren Nebenflüssen.

Los geht's in Jakutsk

Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt. Tempereaturen klettern über minus 40 Grad.
Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt. Tempereaturen klettern über minus 40 Grad.(c) Getty Images/iStockphoto (Aleksandr-_99)

Der nach dem Amur mit 4400 Kilometern zweitlängste Strom Russlands entspringt unweit des Baikalsees. Seinen heute bekanntesten Namen verdankt er den Kosaken, die Anfang des 17. Jahrhunderts auch den Fernen Osten Sibiriens ins Zarenreich holten. Ihren „Großen Fluss“ nannten die ewenkischen Ureinwohner Uly Yene, die jakutischen Ölüöne. „Die Russen machten ihn zur Lena“, sagt Irina Struck, die Reiseleiterin aus Moskau. Die gut gelaunte Germanistin hat eine sowjetische und deutsche Vergangenheit. Seit sie für den Berliner Reiseveranstalter Lernidee arbeitet, ist sie gleichfalls auf den großen Strömen von Sibirien zu Hause.Jede Reise auf der Lena beginnt in Jakutsk. Die Hauptstadt der Republik Sacha liegt etwa 6,5 Flugstunden von Moskau entfernt. Mit rund 300.000 Einwohnern, einem Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes, ist sie dessen einzige Metropole. Ihre Nähe zum Nordpol macht sie zur kältesten Großstadt der Welt. Wintertemperaturen von minus 60 Grad und darunter sind keine Seltenheit. Schulfrei gibt es „schon“ ab minus 45 Grad.

Kühltruhen der Natur

Geprägt von modernen Zweckbauten, die wegen des Permafrostbodens meist auf Stelzen stehen, beschränkt sich Jakutsks Bestand an interessanten älteren Gebäuden auf ein paar Kirchen und Bauten aus der Sowjetzeit. Ein Komplex aus rekonstruierten historischen Holzhäusern inklusive Festungsturm Ostrog, Palisadenzäunen und holzgepflasterten Straßen soll an die frühere Altstadt erinnern. Spektakulär ist das Mammutmuseum mit sensationellen Funden wie einem komplett erhaltenen Mammutbaby und vollständigen Skeletten. Sehenswert sind auch das Ethnologische sowie das Maultrommelmuseum und das „Reich des ewigen Frostes“.
Dieses unterirdische ehemalige Lebensmittellager am Rand der Stadt wurden zu einer Dauerausstellung für Eisskulpturen umfunktioniert. „Wer in Sacha einen Keller hat, braucht keine Kühltruhe“, sagt Irina beim sommerlichen Rundgang durch die minus fünf Grad kalten Räume. Ganz gleich, ob Wild oder Fisch, Schlachtfleisch oder Gemüse – die ganzjährige Bodenkälte ist für alle Vorräte recht praktisch. Im späteren Verlauf der Reise wird man das hin und wieder sehen. Doch erst einmal geht es um große Landschaftsbilder. Um diese zu zeigen, bringt die in Österreich gebaute MS Michail Sokolow ihre 100 Passagiere auf der Lena zunächst in Richtung Süden.

Wilde, weite Schönheit

Umringt von dichter Taiga, wachsen auf der linken Uferseite Sand- und Kalksteinfelsen bis zu 150 Meter in die Höhe und formieren sich zu atemberaubender Naturarchitektur. Manche ähneln Kathedralen oder Burgen mit Türmen, Kuppeln oder Zinnen. Andere, verblüffend gleich in Größe und Gestalt, reihen sich zu fast symmetrischen Arkaden.Auch von ihren Gipfeln ist die Aussicht genial. Alles ist gewaltig groß, unendlich weit – und traumhaft schön. Der Weg nach oben führt durch einen Wald aus Tannen, Zedern, Lärchen wie auch Birken mit strahlend weißen Stämmen. Neugierige Vögel begleiten im Geäst die Wanderer. Possierliche Burunduks, Sibirische Streifenhörnchen, tauchen plötzlich vor einem auf, um sofort wieder ins Gebüsch zu huschen.
Gleich hinter dem Nationalpark „Lena-Säulen“ wartet eine Herde großer Tiere auf die Flusskreuzfahrer. Es sind die Bisons von Ust-Buotama. Seit Urzeiten waren diese Büffel in Sibirien zu Hause. „Über die Beringstraße bevölkerten sie einst von hier aus Nordamerika“, erklärt Studentin Kjun, die an diesem Tag die Gäste durch das Reservat begleitet.

Schwimm- und Angelstopp

Per Rückimport aus Kanada sowie durch Nachzucht sorgt man nun dafür, dass es in Sacha bald wieder eine stabile Bison-Population gibt. „Die ersten Gruppen wurden schon erfolgreich ausgewildert“, berichtet die angehende Biologin. Zu sehen sind nun keine wilden Tiere mehr. Immerhin verleihen frische Bärenspuren einem Schwimm- und Angelstopp den Hauch von Abenteuer. Die Szenerien, die in den nächsten Tagen bis zum Mündungsdelta am Polarmeer folgen, übertreffen sich von Mal zu Mal. Auch die Exkursionen in Städte wie Schigansk, Kjusjur und Tiksi sorgen für überwältigende Momente. Stets sind die Passagiere von der spontanen Offenheit und Herzlichkeit der Menschen tief berührt.
Vom Lena-Ufer her schickt eine Maultrommel ihre federnd-schwingenden Töne über die abendliche Wiese. Wie Feldheuschrecken hopsen sie durchs Gras und mischen sich mit den Stimmen des Kehlgesangs der Jakuten. Für sie ist jeder Sommertag ein Grund zum Feiern.

Compliance-Hinweis: Die Reise wurde unterstützt von www.lernidee.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2020)

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