Randerscheinung

Die ersten Wochen an der Uni im Jahr 2020

(c) Carolina Frank
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"Ist aber schon mühsam so, oder?", sage ich. "Ja, voll", sagt der Mittlere. "Und wie lang geht das jetzt so?"

Ich sitze im Wohnzimmer und schaue dem Mittleren über die Schulter, der gerade virtuell die Uni besucht. Mein Sohn hat die Ohrstöpsel herausgetan und auf laut geschaltet, damit auch ich dem Unterricht folgen kann. Der Vortragende hält mit blecherner Stimme seine Vorlesung in einem passbildgroßen Ausschnitt, der Großteil der Fläche auf dem 13-Zoll-Bildschirm des Laptops ist einer Lernunterlage vorbehalten, auf der Kurven erklärt werden. Nach zehn Minuten, in denen mir schon drei Mal die Augen zugefallen sind, kündigt der Professor eine fünfminütige Pause an. Obwohl gerade Hunderte Studierende seiner Vorlesung folgen (das werden im  Verlauf des Semesters schon noch weniger werden), erhält er auf diese Ankündigung sowie auch zu seinen sonstigen Ausführungen null Feedback. "Ist aber schon mühsam so, oder?", sage ich. "Ja, voll", sagt der Mittlere. "Und wie lang geht das jetzt so?", will ich noch wissen. "Die Vorlesung dauert noch eine Stunde und die nächste direkt im Anschluss wieder zwei Stunden. Aber nächste Woche haben wir dann einen Kurs auf der Uni."

So schauen sie also aus, die ersten Wochen an der Uni im Jahr 2020. Bei mir waren es 1989 bummvolle Hörsäle, bei denen ich oft im Eingangs bereich am Boden gesessen bin, bevor ich nach einer halben Stunde mit einem der Umstehenden dann doch lieber in eines der Kaffeehäuser rund um die Hauptuni ging. Viel haben wir dort geklagt über die Massenuni, überfüllte Veranstaltungen, ausgebuchte Proseminare und zu wenig Lehrpersonal. Doch wir durften immerhin hingehen, es waren lauter Gleichaltrige um uns herum, und alles war sehr aufregend. Der Mittlere ist inzwischen zurück auf der Couch, hat sich wieder vor seinen Bildschirm gesetzt, und die Blechstimme fährt fort im Stoff.

(Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 16.10.2020)

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