Zuständigkeiten

Kompetenzen, Macht und Widersprüche

FILE PHOTO: European Union flags flutter outside the European Commission headquarters in Brussels, Belgium
FILE PHOTO: European Union flags flutter outside the European Commission headquarters in Brussels, BelgiumREUTERS
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Seit Gründung der EU ringen die Mitgliedstaaten mit Brüssel um eine Kompetenzverteilung, die ihnen ausreichend Gestaltungsraum sichert. In Krisen waren sie aber stets bereit, noch mehr Entscheidungsmacht auf die EU-Ebene zu verlagern.

Der Konflikt ist so alt wie die Menschheit: Wer ist für was zuständig, wer darf entscheiden, wer führt, delegiert oder muss erfüllen. Es ist ein Problemfeld, das sich heute von internationalen Organisationen über Nationalstaaten bis hin zu Machtspielen in größeren Unternehmen zieht. Wer hat welche Kompetenz, wer hat die Macht, strategische Entscheidungen zu treffen, wer hat einen Gestaltungsspielraum und wer nicht? So wie es vielen Angestellten geht, die sich nicht selten mit mehreren Chefs konfrontiert sehen, die auf ihre Mitarbeit zugreifen und zwischen denen sie zerrieben werden, so geht es auch vielen Bürgern. Ihre Interessen gehen nicht selten in den Kompetenzstreitigkeiten zwischen regionaler, nationaler und europäischer Ebene verloren.

Kompetenzstrukturen sind selten geplant, sehr oft über Jahrzehnte gewachsen. So auch zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Was heute als Kompetenzkonflikt zwischen Brüssel und den Hauptstädten wahrgenommen wird, hat seine Wurzeln in zahlreichen Kompromissen, die zur jeweiligen Zuordnung von Zuständigkeiten geführt haben.

Die Machtaufteilung hat ihren Ursprung im europäischen Friedensprojekt. Als die sechs Gründerstaaten – allen voran die ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich – 1950 die Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gründeten, war ihnen bewusst, dass sie zur Verhinderung eines neuerlichen Kriegs nationale Kompetenzen abgeben mussten. Sie stellten die wichtigsten Ressourcen, um die schon mehrfach in Europa Krieg geführt worden war, unter eine gemeinsame Verwaltung. Dieser Einbruch in Souveränitätsrechte war insbesondere bei Kriegsgewinnern umstritten, dennoch setzte sich der Idealismus der Gründungsväter, Jean Monnet und Robert Schuman auf der französischen und Konrad Adenauer auf der deutschen Seite, letztlich durch. „Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn dieser Anfang gemacht worden ist, wenn hier sechs europäische Länder, wie ich nochmals betone, freiwillig und ohne Zwang einen Teil ihrer Souveränität auf ein übergeordnetes Organ übertragen, man dann auf anderen Gebieten diesem Vorgang folgen wird. Und dass damit der Nationalismus, der Krebsschaden Europas, einen tödlichen Stoß bekommen wird“, sagte Adenauer in einer Rede 1955 vor dem Deutschen Bundestag.

Seit damals wuchsen in Schritten die Kompetenzen der heutigen Europäischen Union deutlich an: von der Landwirtschaft über den Binnenmarkt bis zur gemeinsamen Währung verbreiterte sich die Zuständigkeit der EWG, EG und späteren EU. Viele Kompetenzverlagerungen von den Mitgliedstaaten zu den EU-Institutionen gingen mit Konflikten einher. So behinderte Frankreich in den 1950er-Jahren die Gründung einer Verteidigungsunion aus Angst vor dem Verlust nationaler Souveränität. Lang blieb auch eine enge Kooperation bei Justiz und Innerer Sicherheit aus ähnlichen Gründen unrealistisch.

Binnenmarkt brachte größten Umbruch

Oft trugen erst Krisen zu einer Übertragung von Kompetenzen bei. Als die europäischen Staaten in den 1970er-Jahren wegen ihrer Öl-Abhängigkeit mit einer Energiekrise und wegen der verschlafenen Modernisierung der Industrie mit Wachstumseinbrüchen konfrontiert waren, suchten sie einen Ausweg über die Gründung des gemeinsamen Binnenmarkts. Er hatte zwar das Potenzial, ein neuer Wachstumsmotor zu werden, bedingte aber die bisher größte Verlagerung von Zuständigkeiten von nationaler auf Gemeinschaftsebene. Nun mussten alle Marktregeln vereinheitlicht werden. Das betraf staatliche Förderungen ebenso wie Produktstandards oder den Konsumentenschutz.

Obwohl der Binnenmarkt letztlich ein Erfolg und zum stabilen Anker des europäischen Wohlstands wurde, sorgen seine Regeln bis heute für Irritationen und Kompetenzkonflikte. So resultierten beispielsweise Regeln für öffentliche Ausschreibungen, die keine Bevorzugung lokaler Betriebe mehr ermöglichten, in Verärgerung auf regionaler Ebene. Unverständnis und Widersprüche lösten Regelungen aus, die von der EU als Richtlinie angeregt und nun in den Mitgliedstaaten durch nationale Gesetze umgesetzt werden mussten. Denn nicht selten führte der Machtkampf um die Zuständigkeit zu einem sogenannten Gold Plating, der nationalen Übererfüllung von EU-Vorschriften. Ein Beispiel: 2005 führte eine EU-Richtlinie zur Futtermittelhygiene dazu, dass in Kärnten von offizieller Stelle Schwalben in Kuhställen verboten wurden. Boulevardmedien machten sofort Brüssel dafür verantwortlich. Doch dort wurde bald klargestellt, dass es überhaupt keinen Einwand gegen die nützlichen Vögel in Ställen gäbe. Es war allein die österreichische Aufdoppelung der Regelung, die für Unverständnis sorgte.

Der EU-Bürokratie wurde auch oft zu Recht vorgeworfen, eine Hang zur Überregulierung entwickelt zu haben. Dabei wurde freilich manchmal vergessen, dass die entsprechenden Richtlinien und Verordnungen irgendwann von einer Mehrheit der nationalen Regierungen abgesegnet worden waren. Ob standardisierte Traktorensitze, Hygienevorschriften für Hausschlachtung oder Warnhinweise auf Zigarettenpackungen – sie verstärkten den Eindruck, Brüssel mische sich zu viel in das Leben der Bürger ein.

Mit bis zu 1100 Rechtsakten jährlich wuchs der Berg an Regelungen durch die EU in den 1990er-Jahren erheblich an. Mehrere Faktoren trugen danach zu einer Reduzierung bei. Zum einen benötigte der Binnenmarkt oft nur noch Anpassungen, keine generell neuen Regeln mehr. Zum anderen zogen die Mitgliedstaaten bewusst und unbewusst eine Bremse ein. Bewusst, indem sie der EU-Kommission mit dem Subsidiaritätsprinzip – der Verlagerung aller Entscheidungen auf die unterste mögliche Ebene – Zurückhaltung verordneten. Und unbewusst, indem die 28, nun 27 Regierungen den Entscheidungsprozess durch wachsende Differenzen verlangsamten. 2019 verabschiedete die EU gerade noch 424 Rechtsakte.

Wie sehr die Kompetenzverlagerung in Richtung Brüssel den Handlungsspielraum der nationalen Regierungen einschränkte, wurde in der Coronakrise deutlich. Jede staatliche Fördermaßnahme zur Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen musste von den Beamten der EU-Kommission auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen geprüft werden.

Rückverlagerung zwiespältig

Die Versuche der Mitgliedstaaten, Kompetenzen wieder zurück auf die nationale Ebene zu verlagern, sind freilich ein zweischneidiges Schwert. Gelingt dies, bleiben auch die Ansätze für ein gemeinsames Vorgehen auf der Strecke. So wurde etwa beim Außengrenzschutz deutlich, dass einzelne Länder darauf drängten, den Grenzschutz in ihrer alleinigen Hoheit zu belassen. Doch dadurch verzögerte sich der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Grenzschutztruppe, die flexibel an den Außengrenzen eingesetzt werden kann. Die Migrations- und Asylpolitik wieder verstärkt auf nationale Ebene zurückzuführen trug dazu bei, dass eine gemeinsame Migrationspolitik an eben dieser Außengrenze verunmöglicht wird.

Die großen Widersprüche, das wurde auch bei der Bewältigung der letzten Krisen deutlich, ergaben sich durch unterschiedliches Vorgehen auf nationaler und europäischer Ebene. In der Finanz- und Schuldenkrise agierten die Problemländer aus innenpolitischen Gründen anders, als dies von den Euro-Partnern erwartet wurde. In der Migrationskrise stellten sich einzelne Länder aus ebensolchen Gründen gegen eine gemeinsame Problemlösung. Und auch in der Coronakrise wird die gemeinsame Problemlösung durch Kompetenzstreitigkeiten verlangsamt.

Das Subsidiaritätsprinzip

Nationale Parlamente können EU-Regeln bremsen, wenn sie auf lokaler oder nationaler Ebene besser aufgehoben wären.

Das Subsidiaritätsprinzip, wie es im EU-Vertrag seit 1992 verankert ist, soll beitragen, dass Kompetenzen nicht automatisch auf europäische Ebene verlagert werden. Es sieht einen Korrekturmechanismus vor, um Zuständigkeiten dort zu verankern, wo sie am effizientesten wirken – also etwa auf lokaler, Länder- oder nationaler Ebene. Der Geltungsbereich der Regelung umfasst jedes neue Recht, das nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt.

In der Praxis hat das Subsidiaritätsprinzip zwar den politischen Druck auf Brüssel erhöht, sparsam mit neuen Regeln umzugehen. Der Korrekturmechanismus selbst kam aber nur selten zur Anwendung. Das hängt mit den hohen Hürden zusammen, die dafür notwendig sind. Es muss nämlich ein Drittel der nationalen Parlamente mit einer begründeten Stellungnahme gegen einen EU-Gesetzesentwurf intervenieren, um eine Prüfung einzuleiten. Bei polizeilichen und justiziellen Angelegenheiten liegt die Schwelle bei einem Viertel.

Diese gelbe Karte wurde bisher lediglich dreimal gezückt. Ein Beispiel war 2016 der Vorschlag der EU-Kommission zur Entsenderichtlinie – eine Regelung, die grenzüberschreitende Dienstleistungen betraf. Hier setzte sich die EU-Kommission mit ihrer Zuständigkeit letztlich durch. Im Jahr 2012 kam es bisher ein einziges Mal dazu, dass die Brüsseler Behörde einen Vorschlag für eine Verordnung zurücknahm. Es ging um kollektive Maßnahmen im Zusammenhang mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Bei einem Vorstoß gegen die Schaffung eines europäischen Staatsanwalts kam es zu einem Kompromiss. Er wurde nur in jenen Ländern eingeführt, die sich dafür entschieden. Noch nie haben der Rat der EU (Gremium der Mitgliedstaaten) oder das Europaparlament das Subsidiaritätsprinzip dazu genutzt, einzelne Regelungen völlig abzuschmettern.

Nachträglich kann ebenfalls eine Korrektur vorgenommen werden, wenn die Regierung eines Mitgliedstaats oder das jeweilige nationale Parlament einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip orten. In diesem Fall muss aber eine Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Europäischen Gerichtshof eingebracht werden.

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