Der Tod im Tattoo

Seit Oskar Werner in „Fahrenheit 451“ den Feuerwehrhauptmann Freitag spielte, ist auch der Autor des Romans bei uns bekannt: Ray Bradbury. Am 22. August feiert er seinen 90. Geburtstag.

Es gibt Sätze, die treffen einen wie ein Schlag, haken sich fest im Gedächtnis und lassen einen nicht mehr los. Etwa: „Quite suddenly there was no more road.“ Als ich ihn mit 16 Jahren las, kannte ich den Verfasser jener apokalyptischen Erzählung noch nicht, in der ein Mann während der Wirtschaftskrise 1929 mit seiner magischen Sense den Weltuntergang heraufbeschwört. Bald bestellte ich mir „The October Country“ – mit diesem Text und weiteren Short Stories aus der Frühphase Bradburys. Seither begleitet mich„einer der größten Visionäre unter den zeitgenössischen Autoren“ (Aldous Huxley), und ich kann wohl sagen: Ohne die Kenntnis seiner Werke würde ich anders schreiben und andere Themen behandeln – wenn überhaupt.

Ray Bradbury, geboren 1920 in Waukegan, Illinois, wurde geprägt vom Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, vom Horror der links- wie rechtsfaschistischen Regime, von der Kommunistenhatz und gegenseitigen Bespitzelung unter McCarthy, dem Wettrüsten samt Wettlauf im All. Dies alles spiegelt sich in den frühen Büchern wieder, vom Erstling „Dark Carnival“ (1947) über die „Mars-Chroniken“ (1950), die seinen Ruf als einen der besten Science-Fiction-Autoren begründeten, bis hin zur Dystopie „Fahrenheit 451“ (1953), die stets in einem Atemzug mit Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“ genannt wird. In diesen frühen Werken ist Bradburys Blick auf Amerikas Gegenwart und Zukunft düster, voll Angst vor einem Atomkrieg und geprägt von der Sorge um Kultur und Literatur, die er bedroht sieht von Zensur und kultur- wie bildungsfeindlicher Politik sowie vom aufkommenden TV und einer Freizeitkultur, die mit ihrer Volksbelustigung die Menschen verblödet und die Fähigkeit zu Wachheit und Empathie verschwinden lässt. So schildert er in „Fahrenheit 451“ ein Amerika, in dem das Lesen von Büchern streng verboten ist, da es die Poren des Lebens zeige und die Menschen unglücklich mache. Und die Marsbesiedelung in den „Chroniken“ gerinnt ihm zum Spiegel der Eroberung Amerikas und Vernichtung seiner Einwohner durch die Europäer.

Dass seine frühen Werke nicht in existenzialistische Weltuntergangsstimmung abdriften, dafür sorgen zwei Faktoren: Humor und seine Liebe zur Poesie. Das eine führt zu skurrilen Figuren und Geschichten und zu brillanten Dialogen, die oft in einen köstlichen Schlagabtausch münden; das andere hat eine metaphernreiche, sogar experimentelle Sprache zur Folge – den unverkennbaren Bradbury-Ton, der dazu führte, dass man seinen Urheber als Poeten unter den Science-Fiction-Autoren bezeichnet.

Über diese Punzierung war er nie glücklich: „Vor allen Dingen schreibe ich keine Science-Fiction. Ich habe nur ein Science-Fiction-Buch geschrieben, und das ist ,Fahrenheit 451‘. Science-Fiction ist die Beschreibung des Realen, Fantasy die Beschreibung des Irrealen. Somit sind die ,Mars-Chroniken‘ nicht Science-Fiction, sondern Fantasy.“ Der frühe Erfolg und die Festlegungauf die Rolle des Scifi-Autors haben ihm nicht gutgetan – zumindest im deutschsprachigen Raum, gelten doch hier Science-Fiction und Fantasy als Trivialliteratur. Dabei ist in Bradburys Werken nichts trivial: Geschult an Poe, Lovecraft, Hawthorne und Bierce, hat er im Lauf seines Lebens einen eigenen Kosmos geschaffen: Science-Fiction und Fantasy gleichberechtigt neben Kriminal- und Kindergeschichten und tiefenpsychologischen Erzählungen.

Dabei erwies er sich oft als Visionär: Medialen und technologischen Klimbim, tödlich endende Autowettrennen und die zunehmende Anonymisierung des Individuums in einer Massengesellschaft hat er bereits vor 50 Jahren hellsichtig beschrieben.

Daneben finden sich Konstanten in Bradburys Œuvre: Da ist der Ort Green Town, mit dem er in vielen Erzählungen Waukegan ein Denkmal gesetzt hat; da ist die „Moby- Dick“-Verfilmung durch John Huston, der ihn 1953 als jungen Drehbuchautor engagierte, wodurch er Zugang zum Film und zu einer seiner Lieblingsgegenden – Irland – fand; und da sind die Bibliotheken, die stets sein liebster Aufenthaltsort waren und für deren Erhalt er sich engagierte. Während er in seinen Short Stories meist vertraute Themen und Motive immer wieder variierte, beschritt er mit den Romanen neue Pfade: Nach der frühen Science-Fiction- und Fantasy-Phase schrieb er mit „Löwenzahnwein“ (1957), „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ (1962), „Halloween“ (1972) und zuletzt „Farewell Summer“ (2006) vier berührende wie verstörende Jugendromane um die Probleme des Heranwachsens und die Konfrontation mit dem – eigenen – Tod, setzte er mit „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ (1985), „Friedhof für Verrückte“ (1990) und „Bringen wir Constance um!“ (2002) ein Denkmal den großen Krimiautoren Dashiel Hammett und Raymond Chandler und brachte er mit „Vom Staub kehrst du zurück“ (2001) eine skurrile Gothic Novel heraus.

In der Rahmenhandlung seines Erzählbandes „Der illustrierte Mann“ (1951) begegnet der Ich-Erzähler einem Fremden, dessen Körper mit Tätowierungen bedeckt ist, die sich in die 18 Geschichten des Bandes verwandeln. In der letzten Tätowierung erkennt der Ich-Erzähler den eigenen Tod und flüchtet. Es gibt wohl keine bessere Metapher für das Dasein eines Dichters und die speziellen Prägungen Bradburys im Besonderen, der nie ein Hehl aus seinen geistigen und emotionalen Wurzeln machte – von Pulp-Magazinen der 1950er-Jahre über die erwähnten Erzähler bis zu Philosophen wie Ralph Waldo Emerson oder Henry Thoreau, Künstlern wie Joe Mugnaini, dem Filmer Ray Harryhausen und Walt Disney (für dessen Unterhaltungsparks er Ideen lieferte). Alles, was er seit Kindheit in die Finger bekam, las und verarbeitete er, es kehrt anverwandelt wieder als Roman, Erzählung, Drama, Essay, Drehbuch oder Gedicht.

„Ich bin ein Geschichtenerzähler, nicht mehr und nicht weniger. In früheren Zeiten wäre ich wahrscheinlich mit Gauklern und Barden auf dem Marktplatz gestanden und hätte die Leute unterhalten.“ Mit überbordender Fantasie hat er uns elf Romane, mehr als 500 Erzählungen und viele Theaterstücke und Gedichte geschenkt. Dafür und für die Inspiration, die ich erhalten habe, danke ich ihm, der am 22. August den 90. Geburtstag feiert. Bei Diogenes gibt es Bradburys wichtigste Werke, drei davon – „Der illustrierte Mann“, „Die Mars-Chroniken“, „Fahrenheit 451“ – als Kassettenedition „Space Opera“. Im Verlag Edition Phantasia finden sich „Bringen wir Constance um!“ und „Vom Staub kehrst du zurück“, bei Eichborn „Fahrenheit 451“ als Graphic Novel. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2010)

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