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Nationen und EU-Institutionen: Gebt Europa, was Europas ist

Wo liegt die Grenze zwischen nationalen und europäischen Zuständigkeiten? Ist das Vetorecht der EU-Mitglieder heute wichtiger denn je? Und hat die Coronakrise die Union geschwächt oder gestärkt? Diese und andere Fragen beantwortet das Europaressort der "Presse" in diesem Dossier. von Michael Laczynski, Anna Gabriel, Wolfgang Böhm und Oliver Grimm.

Dieses Dossier wurde von der „Presse”-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet.

Es ist mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten sowie des Bundeskanzleramts möglich geworden und daher auch frei zugänglich.

Nationen und EU-Institutionen. Die Grenze zwischen der nationalen und der europäischen Sphäre muss immer wieder neu gezogen werden. Sie liegt dort, wo Partikularinteressen der Mitgliedstaaten das gemeinsame Ganze berühren.

Für Jesus von Nazareth war der Sachverhalt ganz klar: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, empfahl der Prophet seinen Jüngern, als es darum ging, eine Trennlinie zwischen dem irdischen Tal der Tränen – in Gestalt des Imperium Romanum – und dem Himmelreich seines Vaters zu ziehen. Doch mit dieser Klarstellung begründete er zugleich ein Spannungsverhältnis, das in den folgenden zwei Millennien die europäischen Gesellschaften nachhaltig prägen und intensiv beschäftigen sollte – nämlich jenes zwischen dem Europa der (National-)Staaten und dem Europa der transnationalen Institutionen.

Die transnationale Institution, um die es in Folge die allermeiste Zeit gehen sollte, war die katholische Kirche, die sich als das spirituelle Fundament verstand, auf dem die Herrscherhäuser des Abendlandes ihre weltliche Macht begründeten. Dieses Selbstverständnis brachte das päpstliche Rom allerdings immer wieder in Konflikte mit Monarchen, die entweder die kirchliche Interferenz in ihre Tagesgeschäfte als lästig empfanden oder sich, ganz im Gegenteil, Einfluss auf kirchliche Angelegenheiten verschaffen wollten – das prägnanteste, beileibe nicht einzige Beispiel für Letzteres war die unfreiwillige Übersiedelung der päpstlichen Residenz nach Avignon durch Philipp des Schönen von Frankreich im frühen 14. Jahrhundert.

Bei den Konflikten zwischen Krone und Tiara ging es in den allermeisten Fällen um weltliche Angelegenheiten – um die Ernennung von Bischöfen, zu entrichtende Steuern, um Grundeigentum oder dynastische Erbfolgen. Der wiederkehrende Zwist machte deutlich, dass die Trennlinie zwischen göttlichen und kaiserlichen Angelegenheiten immer wieder infrage gestellt werden musste, solang die beiden Sphären einander überlappten.

Erst durch den Rückzug der Kirche wurde das lange Spannungsverhältnis – das übrigens nicht ausschließlich negativ war, sondern auch die politische, soziale, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung Europas befruchtet hatte – entschärft.

Mit der Schaffung komplexer transnationaler Strukturen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind neue Reibungspunkte zwischen den Einflusssphären der Hauptstädte und jenen der Institutionen entstanden: im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York, am Ufer des Genfer Sees, wo die Welthandelsorganisation ihren Stammsitz hat, in den Washingtoner Büros der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds – sowie in Brüssel, dem Nervenzentrum der Europäischen Union.

»Je breiter und tiefer die Europäische Union, desto größer ihre Auswirkungen auf die nationalen Politiken ihrer Mitglieder.
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Der Autopilot der Integration

Aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich das Einigungswerk nach 1945 auch als ambitionierter Feldversuch beschreiben, die Konfliktzone aus dem deutsch-französischen Grenzland hin zu den europäischen Institutionen in der belgischen Hauptstadt zu verlagern, frei nach dem Motto: Es ist besser, wenn sich Berlin, Paris und die Beamten der Kommission wegen Quoten und Zuschüssen in die Haare geraten, anstatt sich gegenseitig an die Gurgel zu springen. So gesehen war und ist der Integrationsprozess ein Erfolg.

Allerdings sind die Streitigkeiten unter dem gemeinsamen europäischen Dach alles andere als harmlos. Das hat damit zu tun, dass die nationale und die europäische Sphäre immer öfter überlappen. Je breiter und tiefer die Europäische Union, desto größer ihre Auswirkungen auf die nationalen Politiken ihrer Mitglieder. Dieser Prozess ist nicht ausschließlich von Brüssel aus gesteuert, sondern läuft zum Teil sozusagen auf Autopilot – konkret mittels Urteilen des Europäischen Gerichtshofs. Der EuGH ist ein aktivistisches Höchstgericht und weitet seit einer Reihe bahnbrechender Urteile in den 1960er-Jahren den Zuständigkeitsbereich des Europarechts sukzessive aus. Kritiker dieser Entwicklung sprechen von einer Asymmetrie zuungunsten der Mitgliedstaaten: Demnach kann der EuGH nationale Gesetze mit- bzw. umgestalten, aber umgekehrt wird die Einstimmigkeit aller 27 EU-Mitglieder benötigt, um die EU-Verträge umzuschreiben, auf deren Basis die Luxemburger Höchstrichter agieren.

Im Mittelpunkt dieses Konflikts steht die Kompetenz-Kompetenz: Damit gemeint ist die Entscheidungsmacht über Ausmaß und Verteilung von Zuständigkeiten. In den Nationalstaaten wird dieses Pouvoir im Namen des Souveräns (also der Wähler) ausgeübt. Auf der europäischen Ebene ist die Zuteilung der Kompetenz-Kompetenz schon schwieriger. Dass der Rat als Gremium der (demokratisch gewählten) Regierungen der EU-Mitglieder dazu befugt ist, steht außer Frage. Doch in dem Moment, in dem eine oder mehrere Regierungen in die Autokratie abrutschen, wird dieser Anspruch des Rats geschwächt.

Wie verhält es sich weiters mit dem Europaparlament? Seine Abgeordneten werden von den EU-Bürgern gewählt, doch die Europawahl ist durch ihre spezifischen Regeln – die im EU-Parlament vertretenen Parteien können nicht direkt gewählt werden – abstrakter als nationale Parlamentswahlen. Hinzu kommt die spezifische Rolle der Kommission, die als einzige im EU-Gefüge das Recht hat, Gesetzesentwürfe vorzulegen, sowie die Tragweite der EuGH-Rechtsprechung. Angesichts dieses Geflechts aus Zuständigkeiten ist es alles andere als einfach, Europas Kompetenz-Kompetenz zu verorten.

Es geht um unsere gemeinsame Sache

Solang es bloß um die Kultivierung des gemeinsamen Binnenmarkts ging, waren die Unschärfen verkraftbar. Doch mittlerweile tangiert die EU Bereiche, die früher alleinige Zuständigkeit ihrer Mitglieder waren – etwa Grenzschutz und die Aufnahme von Flüchtlingen. Umgekehrt strahlen nationale Entscheidungen heute weit über nationale Grenzen hinaus. Wenn beispielsweise Zypern seine Pässe an Kriminelle verhökert, dann ist das nicht nur die Sache Zyperns, sondern aufgrund der EU-Personenfreizügigkeit auch die Sache aller anderen Unionsmitglieder.

Hat es also keinen Sinn mehr, das Nationale vom Europäischen zu trennen? Doch. Denn die Verbindung zwischen Souverän und Staatsgewalt ist nach wie vor stärker auf nationalstaatlicher als auf europapolitischer Ebene. Solang Europawahlen nicht als ebenso bedeutsam wahrgenommen werden wie Parlamentswahlen, muss es zwangsläufig eine Trennung zwischen den beiden Sphären geben.

Und wo soll diese Trennlinie verlaufen? Am einfachsten lässt sich die Demarkation bewerkstelligen, wenn man die Sache andersherum betrachtet und die Grenze nicht dort zieht, wo Europa ins Nationale schwappt – denn das ist gar nicht so einfach festzustellen –, sondern dort, wo nationale Interessen unsere gemeinsame Sache tangieren. Wenn also in einem Mitgliedstaat der Rechtsstaat ausgehebelt wird, dann ist das keine nationale Angelegenheit, auch wenn die handelnden Personen demokratisch an die Macht gekommen sind, sondern die Angelegenheit aller Teilhaber des Binnenmarkts und Nutznießer der europäischen Freiheiten. In diesem Sinne: Gebt Europa, was Europas ist. Und behaltet den Rest.

Dieses Dossier wurde von der „Presse”-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet.

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