Steht mehr auf dem Spiel als das deutsche Vorstadtidyll?

Steht mehr Spiel deutsche
Steht mehr Spiel deutsche(c) APN (Matthias Rietschel)
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In Deutschland wird um die "Datenkrake" Google und ihren Dienst "Street View" gestritten: Vordergründig geht es darum, wie privat der öffentliche Raum ist. Dahinter steht die Angst vor der wachsenden Macht des jungen Weltkonzerns.

Google ist erst zwölf Jahre alt, eckt aber schon ziemlich an. Google, mit 80 Prozent Marktanteil bei Internetsuchanfragen und Onlinewerbung beinahe schon ein Weltmonopolist, mit dem Tochterunternehmen YouTube der Marktführer bei Onlinevideos, hat die ganze Welt von der Luft aus dokumentiert und digitalisiert, ist dabei, die Buchbestände aller großen Bibliotheken einzuscannen, fungiert mit seinem Dienst Gmail als elektronische Poststelle für Millionen Menschen und plant, ins Nachrichten- und Fernsehgeschäft einzusteigen. Und vor allem: Google ist ein akribischer Datensammler, der mit großer Wahrscheinlichkeit jetzt schon mehr über Sie weiß als jede andere Institution dieser Welt.

Nachdem der „Spiegel“ schon im Jänner Google zur Titelgeschichte gemacht hat, beschäftigen sich derzeit die deutschen Feuilletons abermals eingehend mit dem Phänomen. Tenor: Müssen wir für unsere Privatsphäre auf die Barrikaden steigen – oder gibt es sie sowieso längst nicht mehr? Anlass: Der neue Google-Dienst Street View, der seit drei Jahren kamerabestückte Autos durch die Städte dieser Welt schickt, um jeden Straßenzug im Internet aufzuzeichnen und abrufbar zu machen. In Deutschland hat Google dabei mit Bürgerprotesten kollidiert und musste Zugeständnisse machen: Bis 15. Oktober kann jeder Bürger verlangen, dass seine Wohnstätte im Internet unkenntlich gemacht wird. (In Österreich verhandelt derzeit die Datenschutzkommission mit Google über ein unbefristetes Einspruchsrecht.)

Zunächst einmal stehen die Beobachter vor einem interessanten Phänomen: Hier protestieren Bürger dagegen, dass etwas öffentlich einsehbar gemacht wird, was längst öffentlich einsehbar ist. Selbst Bürger, die gegen Google Street View protestieren, haben sich bei ihrem Protest von Zeitungsfotografen vor eben jenen Häusern ablichten lassen, die sie vor dem Google'schen Kameraauge geschützt wissen wollen. Und als die Schweizer Tageszeitung „Der Bund“ vor wenigen Tagen Alarm schlug, weil Street View zwar Gesichter von Passanten verpixle, aber die Nummernschilder von Autos auf Parkplätzen vor Bordellen erkennbar blieben, fragten die Onlinekommentare bloß lakonisch: Na und? Diese Autos könne ja jetzt schon jeder sehen.


„Teutonische Fassadenphobie“. Nun zur „Auslese“ der Feuilletonisten: Ulf Poschard sagt zum Anti-Street-View-Protest in der „Welt“ vom vergangenen Donnerstag jedenfalls: „Der deutsche Irrationalismus ist zurück.“ Die Aufgeregtheit der Diskussion erinnere an „längst überwunden geglaubte Selbstbilder der Deutschen, die moderner Technik misstrauen und hinter jedem amerikanischen Großkonzern den Emissär einer Weltverschwörung sehen“. Für Poschard lässt die im Protest gegen Street View manifeste Reklamation der Häuserfassaden ins Privatreich aber noch viel tiefer blicken.

Denn schon der Protestantismus habe „die Fassade auf den Innenraum hin geöffnet“. Daher fehlten „in den besten und wohl auch schönsten Vierteln Hamburgs“ die Vorhänge. Die Fassade umspiele das zu Zeigende. „Sie ist eine Show.“ Und auch „im ziemlich katholischen Barock wurde die Fassade als ein Spiel von Identitäten eingeführt“. Doch der „teutonischen Fassadenphobie“, den „Deutschen und ihrem Hang zur Innerlichkeit“ sei das suspekt. Dabei sei „das Zuziehen von Vorhängen nicht nur Abschottung, sondern Aggression. Es verweigert den Blick auf den Rest der Welt und blendet ihn aus. Zu oft definiert sich die deutsche Gemütlichkeit in der Idee der Abgrenzung.“

Etwas milder stößt der Historiker Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“ ins selbe Horn: „Der jetzige Widerspruch gegen Street View zeigt kultursoziologisch die Privatstraßenmentalität von Laubenpiepersiedlungen, Vorortvierteln und Villenkolonien; nicht my home is my castle, sondern my neighbourhood.“ Und Poschard schlägt zuletzt dann doch einen Kompromiss vor: Statt Häuser zu verpixeln, sollte man sie in Street View durch Entwürfe „großer Architekten“ ersetzen. Der Google-Dienst würde damit „den öffentlichen Raum verdienstvoll ins Reich der Träume ausweiten“.


„Diese Krake ist böse.“ Die Street-View-Kritiker unter den deutschen Feuilletonisten haben ihrerseits zumeist nicht viel gegen diesen Dienst selbst vorzubringen, fürchten aber das Potenzial, das Google im Verein mit seinen anderen Datensammlungen zu entfalten imstande ist. Die FAZ-Redakteurin Melanie Amann mag zwar Street View allein schon nicht: „Schon jetzt wird jede neue Bekanntschaft gegoogelt. Wird man bald auch gestreetviewed? ,Oh je, wie wohnt die denn?‘“ Aber auch ihr Hauptvorwurf spielt nicht mit dem Gegensatzpaar privat-öffentlich, sondern geht gegen die „Datenkrake“ Google: „Diese Krake ist böse. Seine schiere Größe entzieht das Vieh jeder Kontrolle.“

Ähnlich argumentiert Heinrich Wefing in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“, die mit dem Thema Google aufmacht: „Die Totalerfassung unserer Städte zeigt eben nicht nur Fassaden, wie die Verteidiger des Dienstes behaupten. Street View zeigt Menschen auf den Straßen, beim Einkaufen, im Gespräch, Verliebte, die sich küssen, Betrunkene vor der Kneipe, Freier und Prostituierte auf dem Strich.“ Zwar seien die Gesichter unkenntlich gemacht, aber der Rest ist zu erkennen: „Lauter Alltagsszenen, harmlos meist, aber doch privat. Jetzt sind sie weltweit abrufbar, auf einem Rechner in Kalifornien gespeichert für die Ewigkeit.“ Street View räume mit der Illusion auf, „man müsse selbst ins Netz gehen, um darin aufzutauchen. Ein Irrtum: Wenn wir nicht zu Google gehen, dann kommt Google halt zu uns.“

Und das ist wegen der Größe der Datenkrake alarmierend. Es sei nämlich, so Wefing, keine „größenwahnsinnige Werbelyrik“, sondern die tatsächliche Firmenpolitik, was Google auf seiner Webseite als die Philosophie des Unternehmens nennt: „die auf der Welt vorhandenen Informationen zu organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar zu machen“. „Nicht diese oder jene Information“, so „Wefing, „sondern alle. Weltweit.“

Street View zeige in unerreichter Deutlichkeit: „Hier ist ein Unternehmen, das die Technik besitzt, das Geld, die Leute und – vor allem – den Willen, die ganze Welt zu fotografieren, Straße für Straße, Haus für Haus. Kein Konkurrent, keine internationale Organisation hat je etwas Vergleichbares versucht.“ Und im Verein mit all den anderen Möglichkeiten des Konzerns, Daten zu sammeln, entstehe so „unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens ein Ozean von Informationen, der in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist. Und die Menschheit wahrscheinlich verändern wird.“


Gespielte Naivität. Google-CEO Eric Schmidt, Technologieberater von Präsident Obama, macht die Sache mit seinen gespielt naiven Aussagen freilich auch nicht leichter. Etwa als er vor einem Jahr sagte, dass Menschen, die sich nicht bei Bösem fotografieren lassen wollen, es vielleicht am besten nicht tun, und damit bloß eine alte Formel aller Überwachungsstaat-Befürworter repetierte. Oder als er vor wenigen Tagen im „Wall Street Journal“ meinte, jeder sollte die Möglichkeit haben, als Erwachsener den Namen zu ändern, um sich von seinen im Internet dokumentierten Jugendsünden zu entkoppeln. Als ob dann nicht sofort eine Applikation entstünde, die alle Namen einer Person zusammenführen kann – und wer könnte das besser als Google?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2010)

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