Pakistan: Wo die Flut die Islamisten hochspült

Pakistan Flut Islamisten hochspuelt
Pakistan Flut Islamisten hochspuelt(c) REUTERS (ASIM TANVEER)
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Angesichts der Flut erweisen sich die pakistanischen Behörden als unfähig bis machtlos. Das staatliche Vakuum füllen Islamisten mit effektiven Hilfsprogrammen - und werden für Millionen Flutopfer zu Helden.

Um den zwölfjährigen Fazaz steht eine Schar von Flutvertriebenen. Es sind in der Not des Lagerlebens sorgfältig gekleidete Paschtunen: einfache, aber bisher keine armen Leute. Alle wollen sie noch einmal Fazaz' Geschichte hören. Doch der Junge schaut zu Boden. Er zieht seine blaue Schirmmütze mit dem pakistanischen Stern- und Sichelsymbol noch tiefer ins Gesicht. Dem Teenager ist seine Rettungsgeschichte peinlich.

Ausgerechnet seinem Lehrer Eid Akbar, der neben ihm in einem Notzelt von Pakistans größter fundamentalistischer Partei „Jamaat-e-Islami“ steht, verdankt er sein Leben. „Ich war mit zwei Freunden unterwegs, Mutter und Vater waren daheim“, hebt Fazaz an. Er erzählt stockend, wie er und die Freunde von den Fluten des Kabul-Flusses ergriffen wurden, zu schwimmen versuchten, bis sie der Kioskbesitzer ihres Dorfes mit einem schwimmenden Bambusbett rettete. Doch es zerbrach. Wieder waren die Buben in Lebensgefahr. Da rettete sie ihr Lehrer mit einem Boot ein zweites Mal. „Ja, wir haben geweint“, sagt Fazaz. Er gibt es nicht gern zu. Die Zuhörer sind gerührt.

Wenn Islamisten Helden werden. Das ist Stoff für Heldenlegenden, und er geht auf das politische Konto von Jamaat-e-Islami. Die Partei ist in vielen pakistanischen Regionalparlamenten, war hier im Nordwesten einmal Teil einer Regierungskoalition der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) und unterstützt die Taliban in Afghanistan. Dorflehrer Eid Akbar träumte schon als Kind von Freiwilligeneinsätzen für die Partei. Sein Vater machte es ihm vor.

Allerdings war für Akbar mit der Rettung der Burschen nicht alles getan: Vier Tage und drei Nächte, erzählt er, mussten die 20.000 Bewohner seines Dorfes Muhibbanda und der Nachbardörfer am Kabul-Fluss auf Hausdächern ausharren. Sechs Menschen ertranken. Der Rest hielt durch – mithilfe von Wasser und Fladenbrot, das Freiwillige der Islamistenpartei auf Schlauchbooten verteilten. Helfer der Regierung oder internationaler Organisationen bekamen die Leute in der Stunde der Not nicht zu sehen. Nur Hubschrauber der pakistanischen und US-Armee flogen über sie hinweg.

(c) Die Presse / JV

Das ist der bisher größte politische Skandal der Flut. Muhibbanda liegt im dicht bevölkerten Distrikt Nowshera nahe der Millionenstadt Peshawar in Nordwestpakistan. Hier leben die Paschtunen, die auch Südafghanistan bevölkern. Auf einer sechsspurigen Autobahn, die wegen der Flut nie gesperrt werden musste, sind es eineinhalb Stunden bis zur Hauptstadt Islamabad.

Das Militär rührte keinen Finger. Der Kabul-Fluss kommt von Osten aus der afghanischen Hauptstadt und durchfließt die von US- und Nato-Truppen umkämpften Gebiete der Paschtunen in Südafghanistan. Wie aber konnten an seinen Ufern nahe Peshawar Hunderttausende in Lebensgefahr schweben, ohne dass Pakistans Regierung, ihr Militär oder die Verbündeten irgendwelche Hilfsversuche starteten?

„Wir haben keine Regierung“, antwortet Dorflehrer Akbar. Der frisch graduierte Arzt Farmann Ullah stimmt zu: „Die Leute wissen jetzt, wie sehr der Staat ihr Leben missachtet“, sagt Farmann, ebenfalls Freiwilliger bei Jamaat-e-Islami. Er trägt einen weißen Kittel und ein Hörgerät um den Hals. Mit zehn Kollegen von der medizinischen Hochschule in Abbottabad hat er an diesem Tag 1500 Flutbetroffene in den Lagern von Jamaat-e-Islami versorgt.

Farmann – dünner Vollbart, intensiver Blick, brillantes Englisch – strahlt geistige Erregung und politische Energie aus. Er erinnert an Che Guevara. „Ich mag eure Demokratie nicht, aber ich sehe doch, dass, wenn bei euch Not herrscht, der Staat hilft“, sagt er. Diese Mindestleistung erbringe Pakistans Staat nicht mehr. Farmann doziert inmitten der Flutopfer, die sein Englisch nicht verstehen, ihn aber fasziniert anstarren. Er sieht eine neue historische Situation durch die Flut, spricht von revolutionärer Lage im Land. „Die Menschen haben Haus, Vieh und Ernte verloren. Sie haben nichts mehr zu verlieren“, sagt er. Seine Kollegen nicken, doch die älteren Parteikader im Lager, die ihm auch zuhören, lächeln milde.

Die politischen Folgen der Flut sind auch in Islamabad umstritten. Die Wasser bedecken ein Fünftel des Landes, 20 Millionen Menschen sind betroffen, acht Millionen schweben in Lebensgefahr, wenn ihnen nicht schnell geholfen wird, darunter 3,5 Millionen Kinder. Doch so richtig merkt man der hohen Politik das Drama nicht an. Präsident Asif Ali Zardani weilte in Russland – sein zweiter Auslandsbesuch inmitten der Hochwasserkatastrophe. Premier Yusuf Raza Gilani gab Medien Interviews im Hubschrauber. Das schmeckt nach Aktivismus. Schon häufen sich Berichte von plündernden Flutopfern. In Nowshera konnte sich Präsident Zardani nur versteckt hinter Polizeitruppen zeigen. Die Opposition kritisiert die zähe Bildung einer parteiübergreifenden Flutkommission. Von systematischer, breitflächig koordinierter Lebensmittelvergabe ist keine Rede.

Das Versagen der Demokratie. Auch ein sonst eher zurückhaltender Beobachter wie der Sicherheitsexperte Rifad Hussain, Professor an der Quaid-i-Azam-Universität in Islamabad, reagiert daher aufgeschreckt: „Unverantwortlich, unsensibel gegenüber dem Leid der Bevölkerung und inkompetent“ sei die Politik der Regierung. Sie hätte längst den Notstand ausrufen und die Armee voll einbinden müssen. Es gebe ein Versagen der demokratischen Kräfte. „Das Volk ist enttäuscht, es hätte seine demokratischen Vertreter in der Not an seiner Seite erwartet. Doch sie versteckten sich.“

In die Lücke stoßen auch kleine, radikale islamische Gruppen, die bisher im Untergrund operiert haben. Eine hat ihre Kommandozentrale für den Nordwesten hinter einer Autowerkstatt in einem Vorort Peshawars eingerichtet. Über einer Eisentür ist mit Nägeln ein neuer Deckname angebracht: „Al-Sufa-Stiftung“. Hinter der Tür eine dunkle Halle, in der 30 Aktivisten mit Computern und Handys umherwirbeln, um Hilfseinsätze ihrer 700 Freiwilligen zu koordinieren. Überall hängen Parolen vom heiligen Krieg: „Jihad bedeutet, bis in den Tod zu rennen.“ Das sind Szenekenner in Peshawar von der Gruppe gewöhnt: dass ihre Leute als Selbstmordattentäter in den Tod rennen.

Selbstmörder als Lebensretter. Gaur Rehmann ist ihr Führer: ein kleiner, stämmiger Typ mit Vollbart, gehüllt in eine schneeweiße Kurta. Er spricht ruhig und eindringlich, hebt manchmal den Zeigefinger. „Für uns Muslime ist die Flut eine Prüfung vor Gott. Wenn wir einander helfen, werden wir sie bestehen.“ Aber er kann auch überraschen. Engagiert und detailversessen, in der Art von NGO-Helfern, beschreibt er Trinkwasser- und Lebensmittelmangel. Die Regierung verteile zwar Hilfe auf den großen Straßen, aber sie gelange nicht in die vielen abgelegenen Dörfer, die oft abgeschnitten seien, sagt Rehman. Dorthin schicke er seine Leute. „Sie tragen Frauen und Kinder auf Schultern durch die Fluten.“
Der Lokaljournalist Nasir Dawar hat zugehört und wundert sich: „Ich kenne sie schon lange. Ich hätte nie gedacht, dass diese Leute auch Leben retten.“

Auch für internationale Hilfsorganisationen ist der erfolgreiche Einsatz der Islamisten blamabel. 20.000 Freiwillige bietet Asif Luqman Qazi, Hilfskoordinator von Jamaat-e-Islami in Peshawar, der UNO an, wenn sie seiner Organisation Lebensmittel, Medikamente und Zelte aushändigen würde. Er macht das Angebot in perfektem Englisch, während er die Essensausgabe im Lager inspiziert. Doch die UN beliefert keine Fundamentalisten, die die Taliban unterstützen: Stattdessen versorgt sie im Distrikt Charsadda östlich von Peshawar eine von einem Handyunternehmer in der Not gegründete Mini-NGO, die in einer Schule Mehlsäcke des Welternährungsprogramms auf Eselskarren verlädt. Täglich von sieben bis drei Uhr. Bauern stehen mit Karren Schlange.

Handymann Baber Ali Khan weiß gar nicht, wie er zu dem neuen Job kam: „Die Leute kamen und verlangten Hilfe, weil ich die Uni besucht habe“, sagt Khan. Er ist ein eifriger und gewissenhafter Typ. Aber effektiver wäre es, das Welternährungsprogramm würde seine Mehlsäcke an Jamaat-e-Islami liefern.

Krieg in der Katastrophe. Das ist der zweite, größere Skandal: Der auch in Pakistan geführte Afghanistan-Krieg geht inmitten der Flut weiter. Die USA erhöhten zwar die Hilfe für Pakistan, doch der Beschuss paschtunischer Dörfer in Nordwestpakistan hielt an.

„Dies ist nicht die Stunde der Politik, sondern von Aktion und Arbeit“, sagt der helfende Islamist Asif Luqman Qazi. Natürlich verfolgen er und seine Gesinnungsgenossen weiter ihre politischen Ziele im Krieg. Doch weil ihre Taten derzeit für sie sprechen, klingen auch ihre Worte plötzlich vernünftig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2010)

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