Terror in Wien

Im verriegelten Burgtheater: Protokoll einer langen Nacht

ANSCHLAG IN WIEN /  BESUCHER VERLASSEN DAS BURGTHEATER
ANSCHLAG IN WIEN / BESUCHER VERLASSEN DAS BURGTHEATERAPA/HERBERT NEUBAUER
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Als es los ging, saß unsere Redakteurin in der letzten Burgtheater-Vorführung vor dem Lockdown. Ein Bericht aus dem ersten Bezirk.

Einmal noch kurz vor dem Lockdown ins Theater. Kann man das verantworten? Der Wunsch nach Live-Kultur gewinnt. Wir haben Karten für ein Stück im Burgtheater: „Das Himmelszelt“, eine Geschichte über ein weibliches Geschworenengericht, das über eine junge Frau richtet.

21.30 Uhr: Während auf der Bühne die zweite Hälfte auf das große Finale zusteuert, vernehme ich Funkgeräte. Etwas von „Polizei" und „Absperrungen". Hab ich mich verhört? Gehört das zum Stück? Man kann ja nie wissen. Ein paar Handys leuchten im Publikum auf. Ach, wird nichts sein.

22.00 Uhr: Die Vorführung endet mit einem Knall, es wird dunkel. Applaus. Es wird hell. Burgtheater-Chef Martin Kušej tritt auf die Bühne, allein. Etwas stimmt nicht. Es sei ihm bewusst, dass der Schlussapplaus, gerade heute, dem Ensemble gehören sollte, sagt er. Und auch zur Coronakrise hätte er gerne etwa gesagt, aber … Er ringt sichtlich um Fassung. Es habe viele Schüsse im ersten Bezirk gegeben, die Gefahr sei nicht vorbei, das Burgtheater habe nach Polizeianweisung die Türen versperren müssen. Er sei gerade vom Akademietheater hergekommen, um uns das mitzuteilen. Ich bekomme nicht alles mit, weil ich sofort ins Smartphone abtauche. Meine Kollegen haben schon den Liveticker gestartet, bitten um Unterstützung. Ich schicke eine E-Mail in die Redaktion: „Sitze im Burgtheater fest, sie haben die Eingänge verriegelt.“ Dann ist der Empfang weg.

22.20 Uhr: Wir gehen zur Bar, Wasser wird verteilt, wir trinken Wein. Und gleich noch ein Glas. Endlich wieder Empfang. „Geht es dir gut?“, fragen Freunde, die schon über meinem Aufenthaltsort im „Presse“-Ticker gelesen haben. „Ich bin in Sicherheit“, schreibe ich meiner Familie. Ein älteres Paar unterbricht die Handy-Session. Genau heute hätten sie ihr Smartphone nicht mitgenommen. Ob ich denn schon mehr wisse. Als ich antworte, merke ich, wie verwirrt ich noch bin. Ich erzähle unzusammenhängend von einer möglichen Geiselnahme auf der Mariahilfer Straße. „Wie, aber war das nicht am Schwedenplatz?“ „Gibt es Tote?"

22.50 Uhr: Ja, es gibt Tote. An jedem Fenster stehen Leute und blicken auf die blinkenden Polizeiautos am Ring. Manche halten sich fest im Arm. Bei den meisten ist die erste Schockstarre gelöst. Wir werden vom Personal in den Saal gebeten. Zwei junge Männer sitzen im Schneidersitz am Boden, ein älterer Herr weist sie ziemlich ungehalten zurecht. Das sei doch keine Art. Ist eben doch noch das Burgtheater.

23.00 Uhr: Immer noch nichts Neues, aber es gibt ein spontanes Publikumsgespräch. Viele haben ihre Weingläser mitgenommen, auch die auf der Bühne. Was soll man auch machen. Die Schauspielerinnen sagen viele kluge Sachen über Frauen, darüber wie sie die Welt sehen und darüber, wie sie von der Welt gesehen werden. Eine sagt, sie ist schon betrunken. Direktor Kušej redet über den Lockdown und Freiheit. Fast schon beruhigend, diese Rückkehr zur alten neuen Normalität.

23.45 Uhr: Ein Glas zerbricht, die Vorstellung ist beendet. Kušej fragt, wer rauchen will, möge zu ihm kommen. Freudige Zustimmung, der Raucher-Tross macht sich auf den Weg zur Bühne. „Ich bin ein Nichtraucher, aber habe ein Herz für Raucher“, so der Burgtheaterchef.

Kušej erklärte die Feststiege kurzerhand zur Raucherzone.
Kušej erklärte die Feststiege kurzerhand zur Raucherzone.

00.15 Uhr: Ein Raucherbereich ist gefunden, überall auf der prächtigen Feststiege stehen Wasserkübel, in Gruppen wird gequalmt. Der Chef schaut vorbei: „Bitte auf den Mindestabstand achten!" Ein Kamerateam filmt. Angeblich wird gerade das Akademietheater evakuiert.

00.40 Uhr: Das Serviceteam taut Brezel auf. Wein ist auch noch da. Von sieben Toten ist jetzt die Rede, von sechs Tatorten - und immer noch von flüchtigen Tätern. Manche haben sich schon einen Schlafplatz gesucht, dann kommt die Durchsage: Alle wieder in den Saal. Kušej steht auf der Bühne, gemeinsam mit einem Polizeibeamten. Man könne jetzt unter Polizeischutz zur U-Bahn gehen. Oder auch bleiben.

00:55 Uhr: Am Ring überall Polizei, das Aufgebot häuft sich am Schottentor. Auto an Auto an Auto. Auf einen Schlag fühle ich mich wieder nüchtern. Ein Polizeibeamter erklärt einer betagten Dame geduldig den Heimweg. Eine junge Frau weint in ihr Handy.

APA/HERBERT NEUBAUER

01:00 Uhr: Letzter Zug fährt ab, leider in die falsche Richtung. Aber vielleicht einfach umsteigen, auf die U4 am Schottenring? Fehlanzeige. Ein Mitarbeiter bringt uns zum einzigen offenen Ausgang.

01:10 Uhr: Eine ganze Gruppe ist gestrandet, steht unschlüssig gegenüber dem Otto-Wagner-Schützenhaus. Mein Akku ist mittlerweile leer, aber es gelingt ohnehin niemandem, ein Taxi zu rufen. Drei Krankenwägen rasen vorbei. Nicht gerade beruhigend. Wir gehen trotzdem los, durch die leeren Gassen des zweiten Bezirks. Auch andere sind auf dem Weg, mit Rädern, zu Fuß, paarweise. Keiner spricht.

01.20 Uhr: Ein Taxi leuchtet in der Dunkelheit. Wir halten es an. „Bestellt?“ „Nein“. Dann noch eines. „Bestellt?“. „Nein“. Der Fahrer nimmt uns trotzdem mit. Er redet nicht viel, aber er redet von einer „großen Katastrophe in Wien“. Es läuft Ö3, keine Nachrichten, nur Musik. Wir müssen einen großen Umweg in den fünften Bezirk fahren. Überall Sperren.

02.00 Uhr: Endlich daheim. Wir sind erschöpft, nur langsam fällt die Anspannung ab. Mein Freund sagt: „Ich verstehe das nicht“. Normalerweise würde ich irgendetwas erzählen, aber ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. Ich setze mich an den Laptop und schreibe diesen Text.

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