Neuer US-Präsident

Joe Biden: "Die Ära der Dämonisierung muss enden"

Kamala Harris und Joe Biden feiern ihren Wahlsieg mit ihren Familien in Wilminton, Delaware.
Kamala Harris und Joe Biden feiern ihren Wahlsieg mit ihren Familien in Wilminton, Delaware.REUTERS
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Joe Biden wird 46. US-Präsident – der älteste in der Geschichte des Landes. Fast 50 Jahre hat er sich auf seine große Stunde vorbereitet. In seiner Siegesrede schlug er versöhnliche Töne an und ging auf Anhänger Trumps zu.

Die Biden-Villa in Wilmington ist längst nicht so prächtig und gleißend wie das Weiße Haus in Washington. Doch das Privatdomizil des demokratischen Präsidentschaftskandidaten in der Kleinstadt in Delaware, auf halbem Weg zwischen New York und Washington, hat sich seit der Wahlnacht zu einem zweiten Machtzentrum der Vereinigten Staaten herauskristallisiert. Secret-Service-Agenten streiften durch die Häuserzeilen, als gälte es, einen Präsidenten zu beschützen. Über der Stadt hatten die Behörden aus Angst vor einem Anschlag eine Flugverbotszone verhängt.

Nicht nur Wilmington, vor den Toren Philadelphias gelegen, sondern die ganze Nation und die Weltöffentlichkeit blickten gebannt auf den Auszählungsmarathon in der Metropole Pennsylvanias, wo Bidens Vorsprung stündlich wuchs. Seit Tagen harrte das Team um Joe Biden und Kamala Harris des Zeitpunkts, an dem es gleichsam offiziell die ominöse Schwelle von 270 Stimmen, der Mehrheit des Elektorats, überschreiten würde – darauf, dass ein TV-Sender den „Keystone State“ im Nordosten der USA mit seinen 20 Wahlleuten Joe Biden zusprechen und ihn zum 46. US-Präsidenten deklarieren würde. Am Samstagabend, um 17,24 Uhr, war es soweit: CNN proklamierte Biden zum Sieger und Kamala Harris zur ersten Vizepräsidentin. Fox, der Haus- und Hofsender von Präsident Donald Trump, folgte wenig später.

„Zeit zu heilen"

Innerhalb weniger Minuten strömten in ganz Amerika jubelnde Menschen auf die Straßen, auch vor das Weiße Haus in Washington. Es spielten sich emotionale Szenen ab. Manche weinten vor Freude, andere tanzten ausgelassen. Es schien, als sei eine Last von ihnen abgefallen.

Joe Biden zeigte sich in einer ersten Stellungnahme „geehrt und demütig“. Er rief die Amerikaner zur Versöhnung auf. „Jetzt, da der Wahlkampf vorbei ist, ist es an der Zeit, die Wut und die harsche Rhetorik hinter uns zu lassen und als Nation zusammenzukommen. Es ist Zeit für Amerika, sich zu vereinen. Und zu heilen.“

„Lasst uns gegenseitig eine Chance geben"

Auf einem Parkplatz vor dem Kongresszentrum in Wilmington stand eine Bühne samt Feuerwerk bereit für die Siegesansprache. Biden bemühte sich darin um versöhnliche Töne und richtete sich direkt an die Anhänger seines unterlegenen Konkurrenten, Donald Trump. „Ich verstehe eure Enttäuschung. Ich habe selbst ein paar Mal verloren, aber lasst uns jetzt gegenseitig eine Chance geben.“ Die Ära der Dämonisierung müsse zu Ende gehen. Es sei Zeit, das Land zu heilen. „Wir dürfen Gegner nicht wie Feinde behandeln. Sie sind keine Feinde. Sie sind Amerikaner“, sagte Biden.

Noch nie zuvor sei ein amerikanischer Präsident mit so vielen Stimmen gewählt worden. Er habe ein Mandat für den Anstand, für die Wissenschaft, für den Kampf gegen die Corona-Pandemie, den Klimawandel und den strukturellen Rassismus erhalten, erklärte Biden in seiner Rede, die konventionell ausfiel und sich allein deshalb deutlich von den Tiraden Donald Trumps abhob.

Die Rolle von Kamala Harris

Vor Biden hatte seine Stellvertreterin, Kamala Harris, die Bühne erklommen und eine Ansprache gehalten. Das ist unüblich. Normalerweise steht in der Wahlnacht vor allem der Spitzenkandidat im Rampenlicht. Doch Harris kommt eine besondere Rolle zu. Sie ist nicht nur einen Herzschlag vom Präsidentenamt entfernt. Sie wird, das ist jetzt schon klar, bei der Wahl in vier Jahren in den Ring steigen. Denn für eine zweite Amtszeit wird der jetzt schon 77-jährige Biden  nicht antreten. In ihrer Rede sprach Harris, selbst Tochter einer Krebsforscherin aus Indien und eines Wirtschaftsprofessors aus Jamaika, die Minderheiten an. Sie kündigte harte Arbeit an.

Nach den emotionalen Reden erleuchtete ein Feuerwerk den Himmel von Wilmington. Der gesamten Biden-Clan kam auf die Bühne, auch der Sohn des Siegers, Hunter Biden, der im Wahlkampf und davor schon im Amtsenthebungsverfahren gegen Trump eine zentrale Rolle gespielt hatte.

Lange Karriere als Senator und Vizepräsident

In 36 Jahren als Senator und acht Jahren als Vizepräsident erwarb sich der Demokrat die Reputation eines moderaten Politikers und Pragmatikers, der den Ausgleich sucht. Als „President in waiting“ präsentiert sich Biden staatsmännisch. Als hätte er die Amtsgeschäfte übernommen, kündigt der Veteran des Washingtoner Establishments erste Vorhaben an – den Kampf gegen die Corona-Pandemie, den Wiedereintritt ins Klimaabkommen und in die WHO.

Es war eine harte Geduldsprobe für den „boy from Scranton“, der mühsam das Stottern überwand, eine Reihe von Schicksalsschlägen und eine lebensbedrohliche Blutgerinnsel-Operation überstand und sich im dritten Anlauf mit seinen bald 78 Jahren anschickt, als ältester Präsident ins Weiße Haus einzuziehen. 1988 war er nach einer blamablen Affäre, als er eine Rede des britischen Labour-Chefs Neil Kinnock plagiierte, früh gescheitert. 20 Jahre später avancierte er schließlich zur Nummer zwei, hinter Barack Obama.

Schwere Schicksalsschläge

Fast 50 Jahre hat sich Joe Biden auf seine große Stunde vorbereitet, seit er 1973 als jüngster Senator einen Monat nach dem vorweihnachtlichen Unfalltod seiner ersten Frau und seiner Baby-Tochter mit 30 Jahren seine Karriere in Washington gestartet hatte. Vor neun Monaten hätte kaum jemand damit gerechnet, dass er das Ziel noch erreichen würde. Bei den ersten Vorwahlen in Iowa und New Hampshire lag der Favorit abgeschlagen hinter Bernie Sanders, der Galionsfigur des linken Flügels, und Pete Buttigieg, dem Shootingstar. Bis er in South Carolina mithilfe der loyalen afroamerikanischen Wählerschaft und ihres Wortführers, des Abgeordneten Jim Clyburn, doch noch ein Comeback schaffte und schließlich am „Super Tuesday“ zum Siegeszug ansetzte.

Seine Konkurrenten versammelten sich hinter dem Kompromisskandidaten. Als Mann von gestern abgeschrieben, zog er als chancenreichster Anwärter aus, Donald Trump die Präsidentschaft abzujagen. Die Gefahr für die Demokratie trieb ihn um. Die Polarisierung unter Trump hatte Biden aus der Pension zurückgeholt – und die verpasste Chance, 2016 gegen ihn anzutreten. Das hat er sich nicht verziehen. Sein Sohn Beau, Justizminister in Delaware, war im Jahr zuvor einem Hirntumor erlegen. Noch am Sterbebett, so die Fama, rang ihm Beau das Versprechen einer neuerlichen Kandidatur ab. Jetzt postulierte Biden den „Kampf um die Seele Amerikas“, doch die Coronakrise zwang ihn monatelang in die Isolation seines Hauses in Wilmington. Von seinem improvisierten Kellerstudio führte er, von Trump als „Sleepy Joe“ verhöhnt, einen Wahlkampf auf Sparflamme.

Empathischer Uncle Joe

In den Swing States im „Rostgürtel“, in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania, erhoffte sich der hemdsärmelige, leutselige Demokrat mit dem Hang zu Fauxpas und Übertreibungen indessen große Chancen, Trump-Wähler zurückzugewinnen. Der gläubige Katholik, der sehr auf seine irischen Wurzeln hält, spricht die Sprache der Arbeiter. Doch unter den Bedingungen der Corona-Pandemie konnte er im Wahlkampf seine Stärken nicht ausspielen: seine Empathie und Jovialität im Direktkontakt mit den Bürgern. Es sollte dann doch knapp reichen, die „blauen“ Staaten zurückzuerobern.

In Washington haben sie ihm Spitznamen verpasst: „Amtrak-Joe“, weil er jahrzehntelang im Zug in die Hauptstadt pendelte, und „Uncle Joe“, wegen seiner notorisch sentimentalen Art und seinen ausschweifenden Reden. Nach einer der Biden-Ansprachen im Senat schrieb ein enervierter Obama auf einen Schmierzettel: „Shoot me.“ Doch er lernte ihn als Berater und Vertrauten schätzen, und neuerdings nennt er ihn „Brother“. Vor Ausrutschern und Pannen – „Joe-Bomben“ – war Biden allerdings im Weißen Haus nicht gefeit.

Robert Gates, unter Obama republikanischer Verteidigungsminister, sagt ihm nach, bei fast allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen falsch gelegen zu sein. Anstand, Ehrlichkeit und Konsensfähigkeit wollen die Republikaner dem Politprofi aber nicht absprechen. Im Weißen Haus sind sie aus der Mode gekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2020)

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