Berg-Karabach

Krieg Armenien - Aserbaidschan vor Vorentscheidung

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Im Kampf um die Kaukasusregion könnte Aserbaidschan nach größeren Erfolgen der vergangenen Tage vor einem wichtigen Teilsieg stehen. Der Fall der Regionalhauptstadt Stepanakert droht.

Mehr als einen Monat nach Ausbruch von schweren Kämpfen um die in Aserbaidschan liegende, seit 1994 von Armenien kontrollierte Region Berg-Karabach bleiben die Chancen auf einen Waffenstillstand gering. Aserbaidschan, dessen Truppen zuletzt größere Erfolge gelangen, fordert den Abzug armenischer Truppen aus Berg-Karabach und dessen nahem Umland, der aus armenischer Sicht zu ethnischen Säuberungen in der ethnisch und religiös primär armenisch-christlichen Region führen würde.

Anfänglich war darüber spekuliert worden, dass Baku vor allem die Rückeroberung von sieben ehemals aserbaidschanisch besiedelten Bezirken der Region anstreben könnte, die seit 1994 eine armenisch kontrollierte Pufferzone um die eigentliche Region Berg-Karabach bilden. Die Ereignisse der vergangenen Wochen lassen aber keinen Zweifel, dass das moslemische Aserbaidschan die De-facto-Rückkehr der gesamten, großteils christlichen Region in seinen Staatsverband anstrebt.

Militärisch sind die aserbaidschanischen Streitkräfte im Vorteil. Sie sind größer als die armenischen, wobei ihr Umfang interessanterweise unterschiedlich hoch angegeben wird. In einigen Quellen ist die Rede von aktiv rund 70.000 Mann, davon 56.000 bei den Landstreitkräften, in anderen, allerdings älteren von bis zu 130.000 Mann, davon 85.000 in der Armee. Die armenischen Kräfte umfassten vor Kriegsausbruch aktiv etwas mehr als 50.000 Mann, davon 45.000 im Heer.

Azerbaijani Presidential Press and Information Office

Der bedeutendere Vorteil der Aseris liegt allerdings beim Material. Sie haben etwa viel mehr Kampfpanzer als die Armenier (ca. 600 gegenüber vielleicht 120 bis 150), mehr Schützenpanzer und gepanzerte Mannschaftstransporter (800+ gegenüber 400+), mehr Artillerie und Raketenwerfer (550+ versus 240+) sowie Kampfflugzeuge (etwa 30 versus 17).

Massive türkische Militärhilfe

Zudem ist da die Qualität des Materials: Beide Streitkräfte basieren speziell bei Großwaffen im Kern auf durchaus soliden russischen Systemen (immerhin waren Armenien und Aserbaidschan früher Republiken der UdSSR). Das vermögendere Ölexportland Aserbaidschan aber hat in den vergangenen Jahren auch hochmoderne und von der Funktion umfangreichere Systeme etwa in Südafrika, Südkorea, Israel, Tschechien und nicht zuletzt der Türkei beschafft, darunter Panzerabwehrraketen, Panzerwagen, Feldraketenwerfer, ballistische Kurzstreckenraketen und mobile Rohr-Artillerie.

Jane's Defence

In den vergangenen Wochen setzten die Aseris zahlreiche Aufklärungs- und Kampfdrohnen aus Israel und der Türkei mit großem Erfolg ein (Drohnen, wenngleich weniger und primär unbewaffnete, hat auch Armenien). Ohnehin unterstützt die Türkei offen Aserbaidschan, und es gibt immer wieder Berichte, dass die Türken etwa Aufklärungsinformationen liefern und islamistische Söldner aus Syrien nach Aserbaidschan gebracht haben. Umgekehrt wird das christliche Armenien vor allem von Russland unterstützt, das dort auch eine Militärbasis unterhält.

Armenische Südfront vermutlich kollabiert

Berg-Karabach ist seiner Fläche nach (mindestens 4400 km2, das hängt von der politischen Definition des Gebietes ab) mindestens so groß wie das Burgenland; acht bis zehn Prozent davon haben aserbaidschanische Truppen laut armenischen Angaben zuletzt eingenommen, insbesondere nördlich der Grenze zum Iran. Noch größer (rund 11.500 km2) ist übrigens das Gebiet, das die international nicht anerkannte, armenische „Republik Arzach" dort beansprucht, mit Berg-Karabach als Kernraum.

Informationen der „Presse" zufolge dürfte der armenische Gebietsverlust an der dortigen Südfront allerdings deutlich größer als zugegeben sein, zumal die armenische Front um Allerheiligen herum auf mindestens 20 Kilometer Breite zusammengebrochen sein soll und aserbaidschanische Sturmspitzen Richtung Westen vordrangen. Die Hauptstadt von Berg-Karabach, Stepanakert, befindet sich offenbar in Artillerieschussweite.

>>> Lage der Hauptstadt Stepanakert in der Karabach-Region (hier ohne detallierte bzw. jeweils beanspruchte Grenzen)

Kriegsentscheidend wird sein, ob Aserbaidschan die Eroberung der historischen Stadt Schuschi/Schuscha in dieser Region sowie des Latschin-Korridors gelingt. Dieser verbindet Armenien mit Berg-Karabach, über Schuschi führt eine Straße weiter ins nahe Stepanakert/Chankendi.

"Wenn Aserbaidschan dort Erfolg hätte, wäre das eine Katastrophe für (das armenische, Anm.) Berg-Karabach", erläuterte der russische Militärexperte Wiktor Murachowski gegenüber der APA. Baku werde es seines Erachtens jedoch in der nächsten Zeit nicht schaffen, diese Verbindung zu kappen, auf beiden Seiten sei Erschöpfung zu beobachten.

Der armenische Botschafter in Wien, Armen Papikyan, sagte, dass er nicht an eine Eroberung von Schuschi glaube. "In den letzten zwei, drei Tagen gab es zumindest 1000 Opfer unter Aserbaidschanern und ausländischen Söldnern, die über eine Schlucht versucht haben, an Schuschi heranzukommen", erklärte er am Mittwoch gegenüber der APA.

APA/AFP/ARIS MESSINIS

Eine unabhängige Bestätigung für diese Zahlen fehlt, an Ort und Stelle stellt sich die Situation auch etwas anders dar. Ein europäischer Kriegsreporter, der sich im Kriegsgebiet aufhält, erachtete am Dienstag die Einnahme der strategisch äußerst wichtigen Straße durch aserbaidschanische Truppen für möglich. "Die sind bereits nahe an Schuschi, jedenfalls in Artilleriereichweite", sagte er und ersuchte, dass sein Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt werde.

Fruchtlose Vermittlung

Russische und US-Versuche, die Konfliktparteien zu einem Waffenstillstand zu bewegen, waren in den vergangenen Wochen wiederholt gescheitert, ein aktiveres Engagement dieser Großmächte war zuletzt nicht zu erkennen. Russland, das sich formal in einem Bündnis mit Armenien befindet, ist zugleich an guten und wirtschaftlich relevanten Beziehungen zu Aserbaidschan interessiert. US-Präsident Donald Trump sprach in sichtlicher Unkenntnis von einem "einfach zu lösenden Konflikt".

Der Iran ist zwar religiös und ethnisch mit Aserbaidschan verflochten, aber aus politischen Gründen mit dem dortigen Regime eher im Clinch. Tatsächlich neigt Teheran dem christlichen Armenien zu, verhält sich bisher aber zurückhaltend und versucht, hinter den Kulissen zu vermitteln.

Armenien macht für das Scheitern von Waffenruhen insbesondere die Türkei verantwortlich, die im Hintergrund die Fäden ziehe. Aserbaidschan wirft wiederum Armenien vor, vergangene Waffenruhen missbraucht zu haben, um Terrain zurückzugewinnen. "Armenien greift gleichzeitig aber auch dicht besiedelte Teile aserbaidschanischer Städte an und zwingt uns, angemessen zurückzuschlagen", sagte der aserbaidschanische Botschafter in Wien, Galib Israfilov, zur APA.

„Duell" der Botschafter in Wien

Israfilov verdeutlichte gleichzeitig die Bedingungen für einen Waffenstillstand: "Wenn Armenien öffentlich verkündet, dass es bereit ist, sich aus Berg-Karabach zurückzuziehen, und damit beginnt, sind wir bereit. Aber Armenien will bloß einen Waffenstillstand und keine weiteren Schritte", sagte Israfilov.

Vertriebene Aserbaidschaner müssten in die Berg-Karabach-Region zurückkehren und auf gleichwertiger Basis an einem demokratischen Prozess teilnehmen, forderte er. Gleichzeitig betonte der Botschafter, dass aserbaidschanische Truppen der armenischen Zivilbevölkerung freies Geleit gewähren würden. "Wir fordern Zivillisten auf, nicht zu den Waffen zu greifen und sich nicht in der Nähe von militärischen Objekten aufzuhalten."

imago images/ITAR-TASS

In jenen Teilen von Berg-Karabach, die von Aserbaidschan zuletzt erobert wurden, gebe es indes keinen einzigen Armenier mehr, klagt seinerseits Armeniens Botschafter Papikyan. Der Vertreter Jerewans warf Aserbaidschan vor, nicht an unabhängigen Beobachtern interessiert zu sein und im Unterschied zu Armenien auch keine internationalen Journalisten im Kriegsgebiet zuzulassen. Lediglich manchmal würde Baku Medienvertretern "inszenierte Tragödien" vorführen.

"Mein Premierminister, Nikol Paschinjan, war sehr deutlich: Wir brauchen Friedenstruppen und sind bereit, dabei alle zu akzeptieren. Nur nicht die Türkei, die selbst Konfliktpartei ist und Aserbaidschan mit Terrorkämpfern aus Syrien in einen weiteren Hotspot verwandeln möchte", erklärte Papikyan. Interessant sei, dass die europäischen Partner Armeniens so täten, als ob sie nicht verstünden, was passieren würde, sagte der armenische Botschafter in Wien.

(APA/Greber)

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