Netflix-Serie

„Liebe und Anarchie“: Mutproben für Erwachsene

Netflix
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Die schwedische Serie „Liebe und Anarchie“ erzählt von zwei Kollegen, die sich auf einen eigenwilligen Wettbewerb einlassen. Eine charmante Ode an den Nonkonformismus.

Einen Tag lang nur rückwärts gehen: Das Unterfangen der ansonsten doch so vorwärtsstrebenden Sofie bringt ihren Mann zur Weißglut. Die beiden leben in einem schicken Haus in Stockholm, haben Geld und bemühen sich um perfekte Normalität. Kindergeburtstage mit DJ, Spa-Nachmittage, hin und wieder ein Überraschungsdinner in Dessous. Das Leben soll berechenbar sein – dann lässt es sich am besten optimieren. Und dann schlurft Sofie plötzlich wie eine Irre durch die Designerküche. Oder zieht sich an wie Cyndi Lauper. Wer hat ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt?

Die Netflix-Serie „Liebe und Anarchie“ erzählt in acht Folgen von einer lustvollen Befreiung. Sofie (Ida Engvoll) ist die neue Strategieberaterin für einen Traditionsverlag, der im analogen Zeitalter stecken geblieben ist. Sie ist ruppig, effizient, stolz. Und hat ihre Strategie, mit Stress umzugehen: In Minute zwei der Serie sperrt sie sich erstmals im Bad ein, lässt die Hose runter, schaltet am Handy einen Porno ein. Als der jüngere IT-Techniker Max (Björn Mosten) sie einmal nach Feierabend beim Masturbieren in ihrem Büro erwischt und fotografiert, entspinnt sich aus ihrer Forderung, das Foto zu löschen, ein wechselseitiges Spiel, das bald zum neckischen Flirt wird. Abwechselnd locken sie einander mit Herausforderungen aus der Komfortzone. Das Rückwärtsgehen ist da unter den harmloseren Aufgaben.

Ein „Clit-Pic“ auf der Verlagsseite

Und so landet bald ein „Clit-Pic“, also ein Foto des weiblichen Geschlechts, auf dem Instagram-Profil des Verlags, Meetings arten in Chaos aus. Dass die Affäre der beiden die Professionalität ihrer Firma völlig untergräbt, wird als eine Art willkommene paradoxe Intervention dargestellt: eine radikale Frischekur für ein Unternehmen, in dem ein konfliktscheuer Chef sich vor Entscheidungen drückt und ein altmodischer Literaturchef „seine“ Autoren umgarnt. Verspielt lässt die Serie neoliberale Fortschrittsgläubigkeit auf Hochkultur-Bewahrer prallen, Normalitätszwang auf Spieltrieb und Rebellion.

In manchen Szenen (in denen etwa Freiheit durch Nacktheit gefeiert wird) erinnert das an den Film „Toni Erdmann“, wo ein Alt-68er (Peter Simonischek) seine Tochter mit schrulligen Rollenspielen dazu bringt, aus ihrem Unternehmensberaterkorsett auszubrechen. Auch hier mahnt Sofies grantiger Papa, der immer gegen irgendetwas protestiert – die „Verdummung“ etwa oder die Pflicht zur Bankomatzahlung – zur Menschlichkeit. Sein Nonkonformismus ist aber auch Ausdruck eines tiefen Weltschmerzes, der ihn regelmäßig in die Psychiatrie treibt: Es ist kompliziert. Und das ist auch das Schöne an der Serie: Sie lässt ihren Figuren Raum für Entwicklungen, für Widersprüche.

Dahinter steckt die schwedische Regisseurin (und studierte Philosophin) Lisa Langseth, die vor schwierigen Themen nicht zurückschreckt: Mit der Oscarpreisträgerin Alicia Vikander, die sie einst entdeckt hat, drehte sie etwa das Drama „Euphoria“ (2018) über eine Luxus-Sterbeklinik. Ihre kurzweilige erste Serie mutet nun deutlich leichter an, ästhetisch zitiert sie typische Bürokomödien, gefilmt im Reality-Doku-Stil mit wackligen Handkameras. Doch hinter dem Spiel geht es auch hier um große Themen: Ums Ausbrechen, um Freiheit, Moral und das Streben nach Glück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2020)

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