Glaubensfrage

Die Welt gerät aus den Fugen

Diesen Eindruck könnte man haben. Trotz der Belastungen nach dem Anschlag und während Corona: Krisen wecken das Beste im Menschen.

Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Dieser weltweit bekannt gewordene Satz ist Titel eines Buches von Antoine Leiris. Nicht jeder wird ihn auf Anhieb kennen. Der Franzose hat im Jahr 2015 seine Ehefrau, Hélène Leiris, bei einem Terroranschlag im Konzertsaal des Pariser Bataclan verloren, der gemeinsame Sohn, Melvil, wurde dabei seiner Mutter beraubt. Die Erinnerung an diesen Satz wird wach nach diesem besonders dunklen Allerseelentag 2020, als am Vorabend von Lockdown II Wien plötzlich mit voller Wucht im Banne eines Terroranschlags stand.

Corona – Lockdown I – Corona – Terror – Lockdown II – Corona noch immer, sogar vehement wie nie: Es ist schon ziemlich viel, was da aktuell so zusammenkommt. Für Österreich, für Wien, für die politischen Verantwortungs- und Amtsträger, für das Gesundheitssystem, für Sicherheitsapparat und Verwaltung, Ärzte, Pfleger, Pädagogen, Polizisten. Aber auch generell für jeden einzelnen.

Nach dem Schock, dem Entsetzen über den Anschlag im Bermudadreieck, direkt beim Stadttempel, der Seitenstettensynagoge, wo jüdisches Wien auf Party-Wien trifft, kann man bald einmal den Eindruck haben, dass die Welt aus den Fugen gerät. Wann, wenn nicht jetzt, drängt sich dieser Eindruck förmlich auf. Ja.

ABER: Krisen wecken auch auf überraschende Weise das Beste im Menschen. Zu Herzen gehende Beispiele über Hilfsbereitschaft in jener Nacht des Entsetzens gibt es genug. Klaus Schwertner, Wiens geschäftsführender Caritasdirektor, sammelt auf seinem Twitter-Account „Geschichten des Zusammenhalts“. Vom Straßenbahner, der auf offener Strecke flüchtende Menschen einstiegen ließ, bis zu den Inhabern der Hotels Wandl und Sacher in der zernierten Innenstadt, die für teilweise stundenlang in Restaurants und Kellern Eingesperrte gratis Verköstigung und Nächtigung zur Verfügung stellten, ist zu berichten. Spitzenrepräsentanten der Religionsgemeinschaften haben sich seither zu einem Rundgang an die Tatorte zusammengetan, jüdische und muslimische Jugendliche zu einem Lichtermeer. Aberhunderte pilgerten und pilgern zu den Tatorten, legen Blumen, Gestecke, Briefe, Zettel ab, entzünden Kerzen, die in der Dunkelheit flackern.

Noch ein Verweis auf ein Buch, diesmal ein bei Styria soeben erschienenes, „Trost“ von Bischof Hermann Glettler und dem Psychiater Michael Lehofer. Im Kapitel „Das unerklärbar Böse in der Welt“ ist zu lesen: „Das Gute hat etwas Unverwüstliches. Es lässt sich nicht besiegen. Es ist wie ein Blümchen, das mitten in einer Steinmauer wächst. Man hat den Eindruck, je mehr es bekämpft wird, desto kräftiger wird es.“ Das sind Wort, denen die Kraft des Trostes innewohnt. Trauer. Trost. Hoffnung. Möge die Übung gelingen. ⫻

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2020)

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