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Sophia Loren: Einst Verführerin, jetzt Ersatzmutter

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Früher brachte Sophia Loren ruppige Machos zum Schmelzen, jetzt einen abweisenden Flüchtlingsbuben: In „Du hast das Leben vor dir“ spielt sie eine KZ-Überlebende, die sich um die Kinder von Prostituierten kümmert.

Als Sophia Loren zur italienischen Marilyn Monroe avancierte, belebte sie das kurz zuvor vom Krieg erschütterte Kino mit ihrem erotischen Charisma wieder. In ihren Leinwandauftritten brachte sie ruppige Prachtkerle wie Anthony Quinn, John Wayne, Gregory Peck, Paul Newman und allen voran Marcello Mastroianni, die für den unbeugsamen, aber bereits brüchig gewordenen Machismo der Veteranen-Generation standen, zum Schmelzen. Eine Begegnung mit der feurigen Schönheit genügte meist, und sie verwandelten sich wieder in verknallte Schulbuben. 60 Jahre später ist das „Busenwunder“ (wie die Boulevardblätter sie damals nannten) nun als vergreiste Pflegemutter eines schwarzen Flüchtlingsbuben in „Du hast das Leben vor dir“ zu sehen.

Die unter der Regie ihres Sohnes Edoardo Ponti entstandene Netflix-Produktion basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage von Romain Gary aus den 70er-Jahren. Anders als das Original spielt die aktuelle Adaption (die erste von 1978 erhielt seinerzeit den Auslands-Oscar) aber nicht in Paris, sondern im süditalienischen Bari der Gegenwart. Obwohl das Melodram akute soziale Missstände im Europa der Jetztzeit aufgreift, kommt es durch die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit Sophia Loren nicht umhin, auch den Glanz einer untergegangenen Kino-Ära wachzurufen.

Es gibt allerdings interessante Unterschiede zwischen damals und heute. Trotz seines jungen Alters legt der 12-jährige Momó (überzeugend: Ibrahima Gueye) den groben Gestus eines erwachsenen Raubeins alter Schule an den Tag. Aber auch sein Herz schmilzt bald dahin. Nachdem er bei Madama Rosa (Sophia Loren) ein neues Heim gefunden hat, entweichen seiner abweisenden Miene nach und nach warme Gefühlsäußerungen und seine rohen Handgriffe werden mehr und mehr von zärtlichen Berührungen abgelöst. Die verändernde Wirkung der Loren hat im Grunde nur ihren sexuellen Charakter eingebüßt. Sie ist keine Verführerin mehr, sondern Ersatzmutter.

Loren erstarrt zum Denkmal

Seinen in kriminellen Kreisen verkehrenden Helden muslimischer Herkunft (er arbeitet für einen lokalen Drogenhändler als ehrgeiziger Laufbursche) zeigt Ponti in ständiger Bewegung. Die von Sophia Loren verkörperte KZ-Überlebende, die aus ihrer rustikalen Wohnung eine Herberge für Kinder von Prostituierten gemacht hat, lässt er hingegen regelmäßig zur Salzsäule erstarren. Im Film blickt sie dann gedankenverloren ins Narrenkastl, aber als Publikum erkennt man in der regungslosen Pose natürlich auch eine Anspielung auf die Erstarrung einer betagten Leinwanddiva zum Denkmal. Während die jüdische Ex-Dirne noch immer von lähmenden Erinnerungen an ihr gepeinigtes Dasein im Faschismus heimgesucht wird, hat die Schauspielerin, die sie verkörpert, in den Wirtschaftswunderjahren dazu beigetragen, die zurückliegende Zerstörung und das Elend durch ihren Glamour und Sex-Appeal vergessen zu lassen.

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Im Bild der katatonischen Greisin lässt Ponti melancholische Geschichtsaufarbeitung und ernüchterte Nostalgie zusammentreffen. Ein interessanter Effekt, der aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass „Du hast das Leben vor dir“ ansonsten kein sonderlich interessanter Film ist. Der Handlungsort wirkt zu postkartenartig-idyllisch, die Requisiten zu gesetzt und die Räume zu künstlich, um den angestrebten Sozialrealismus nicht wie eine bloße Behauptung anmuten zu lassen.

Die desolate Welt, ein Abenteuerspielplatz

Freilich, man kann das darauf zurückführen, dass die Beschreibung der desolaten Lebenswelt größtenteils aus der nachempfundenen Perspektive eines Kindes erfolgt, das sie durch infantile Verklärung als Abenteuerspielplatz wahrnimmt (das kennt man bereits von Dickens oder Spielberg). Aber selbst dann würden von der Umgebung - zumindest manchmal - wirkliche Gefahr und ungeschönte Trostlosigkeit ausgehen müssen.

Letztlich ist „Du hast das Leben vor dir“ ein Märchen - aber ohne Ecken und Kanten. Selbst in seinen boshaftesten Momenten wirkt der Drogenboss bloß wie ein mürrischer Onkel. Auf jeden Konflikt mit erwachsenen Autoritäten folgt eine überstürzte Versöhnung. Und den manischen Tagträumen des verstörten Jungen mangelt es an latenter Abgründigkeit. Überzeugend ist einzig das feine Schauspiel von Loren und Gueye. Der Rest ist leider Kitsch.

„Du hast das Leben vor dir“: Seit 13. November auf Netflix.

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